Adventskalender – Spieglein, Spieglein an der Wand – Teil 15

„Um was geht es?“, fragte David neben mir.

Ich spürte, wie Anne an mir vorbei lief und neben mir ins Blickfeld ließ.

„Ich wollte Daten von der hiesigen Datenbank mit unserer abgleichen, aber irgendetwas blockiert das Programm.“

David schaute zu mir. Sollte ich mich etwa darum kümmern? Er grinste mich an.

„Für was brauchst du die Daten?“, fragte ich etwas unsicher.

„Ich habe festgestellt, dass unsere Daten nicht mehr aktuell sind, was die Stadt betrifft und bevor ich weiter machen kann, wollte ich diese mir mit der Hilfe vom Stadtarchiv korrigieren.“

Ich stand auf und ging zu ihrem Arbeitsplatz.

„Kannst du mir das zeigen?“

„Aber ja doch“, sagte Anne und setzte sich wieder auf ihren Stuhl.

Schnell waren die betreffenden Seiten aufgerufen und ich schaute mir ihr Problem an.

„Das Stadtarchiv arbeitet mit einem anderen System, als wir es benutzen.“

„Dann muss ich alles einzeln übertragen?“

„Darf ich?“, meinte und zeigte auf ihre Maus.

Sie zog ihre Hand zurück.

„Du gehst einfach hier oben bei Bearbeiten hinein und Konvertieren drücken“, ein weiteres Fenster öffnete sich, „ziehst die gewünschten Daten, vom Stadtarchiv, hier herein und „starten“ drücken.“

Sie machte dass, was ich ihr vorgeschlagen hatte und nach wenige Sekunden, fing ihr Rechner an zu arbeiten.

„Danke!“, lächelte sie mich an und errötete leicht.

„Nichts zu danken, dafür sind wir Kollegen doch da.“

Ich drehte mich um und David und Blair hoben fast gleichzeitig den Daumen. Ich atmete tief durch und setzte mich wieder an meinen Platz.

Sie ist rot geworden!“, schrieb Blair und ich konnte deutlich sehen, dass David hinter seinem Monitor grinste.

Ja und, soll ich mir jetzt darauf etwas einbilden?“, schrieb ich zurück.

Ein Kichern war von Blairs Seite zu hören.

Neuer Fanclub?“, schrieb sie nur.

*-*-*

„Eigentlich müsste unser erster Schritt, als neue Führung der Abteilung sein, dass wir uns um das Kantinenessen kümmern!“, meinte Blair und schob etwas von ihren gebratenen Nudeln in den Mund.

Heute war der Asiate an der nächsten Ecke in die engere Wahl gerutscht. Ein Blick durch das Restaurant verriet mir, dass wir nicht die einzigen aus der Bank waren. An verschiedenen Tischen konnte ich den Umhängeausweis unserer Bank erkennen.

„Und wie soll ich das bitte anstellen? In die Küche rennen und Gefahr laufen, die Küchenfrauen verprügeln mich mit ihrem Kochlöffeln?“, fragte ich.

David neben mir verschluckte sich und begann zu husten, während Blair, trotz vollem Mundes anfing zu kichern. Ich klopfte meinem Sitznachbarn kräftig auf den Rücken, der dabei etwas nachgab, aber der Erfolg stellte sich rasch ein. David nahm sein Glas und trank einen Schluck.

„Ich hasse Kopfkino!“, meinte er, als er absetzte, was Blair dazu veranlasste, noch mehr zu kichern.

„Aber Spaß bei Seite, wie stellst du dir das vor?“, wollte ich wissen.

Blair kaute erst fertig und schluckte es hinunter, bevor sich etwas sagte.

„Du hast vielleicht selbst schon gesehen, wie viele Kollegen hier zum Mittagstisch sind. Du solltest zu Paul gehen, ihm das erzählen. Fordere einfach, dass das Essen besser wird, oder die Kantine kann geschlossen werden. Wäre auch ein Kostenpunkt, den die Bank dann einsparen könnte.“

„Da ist etwas dran“, stimmte David zu und hob den Daumen Richtung Blair.

Diese strahlte über das ganze Gesicht.

„Du willst also, die prügelnden Küchenfrauen entlassen?“

David fing an, laut zu lachen, was natürlich die Aufmerksamkeit der Nachbartische auf uns zog. Aber das störte mich nicht, eher faszinierte mich das Lachen von David, den ich anstarrte.

Einen Tritt gegen mein Schienbein, ließ meine Starre sich lösen. Mein Blick wanderte zu Blair, die eine empörte Fratze zog. Dass sie es nicht ernst meinen konnte, sah man an ihrem Lächeln.

„Warum eigentlich ich, nicht einer von euch?“

„Du bist jetzt der Abteilungsleiter“, sagte David leise neben mir.

Diese Tatsache vergaß ich gerade oft, sogar gerne, weil es nur weitere Fragen in meinem Kopf aufwarf. Ob die Kollegen das hinnahmen und sie mich überhaupt als ihren Vorgesetzten akzeptierten.

„Okay… okay ich gebe mich geschlagen. Wenn wir zurück sind, werde ich diesen Punkt der Tagesordnung gleich erledigen“, sprach ich nun ganz formell zu den beiden.

„Gut, dann kann ich ja beruhigt zu meinem Nachtisch übergehen und schob sich die letzten Nudeln in den Mund.

*-*-*

Wie besprochen, war ich auf dem Weg zu Paul. Aber ich wusste nicht einmal, ob er jetzt Zeit für mich hatte. Dort angekommen, wollte ich gerade an die Tür seiner Sekretärin klopfen, als ich von drinnen, recht laute Stimmen hören konnte.

„So nicht junger Mann, von dir lass ich mir nicht das Messer auf die Brust setzten. Entweder du machst das so wie ich es sage, oder ich werde beim Vorstand durchsetzten, dass wir zu einer andere Architektenfirma wechseln.“

Oh, da schien wohl Phillip anwesend zu sein und war mit seinem Vater in die Haare geraten. Das Knallen eine Tür ließ mich zusammenfahren und das Öffnen der Tür vor mir, zurückweisen.

„Eine schönen Tag noch, Mrs. Plumpes“, erkannte ich Phillips Stimme.

Als er mich dann endlich bemerkte, zuckte auch er zusammen.

„Hallo Phillip!“, meinte ich nur und schob die Tür, die er gerade hinter sich schließen wollte, wieder auf.

„Ähm… hallo“, sagte er nur und schob mich an ihm vorbei.

Kurz stand er noch in der Tür, dann schloss er die Tür von außen.

„Was kann ich für sie tun, junger Mann?“, fragte Mrs. Plumpes und zwinkerte aufgeregt hinter ihrer kleinen Nickelbrille.

„Wäre es eventuell möglich, mit dem Chef zu reden?“

„Wenn sie ihn genauso verärgern wollen, wie dieser… dieser…“, sie zeigte auf die Tür, wo eben noch Phillip gestanden hatte, „können sie gleich wieder gehen!“

Oh, da war wohl jemand noch mehr angesäuert, als ihr Chef. Ich hob abwehrend die Hände.

„Nein Mrs. Plumpes, ich wollte ihn nur wegen eventuellen Kosteneinsparungen etwas fragen.“

„Einen Moment bitte!“

Sie nahm den Hörer in die Hand und drückte eine Tasse.

„Mr. Morris, Mr. Lennox ist hier und möchte sie kurz sprechen!“

Sie verstummte und lauschte kurz.

„Okay, werde ich machen.“

Sie legte auf und schaute mich an. Dann hob sie ihre Hand, ohne etwas zu sagen und wies mit einem Lächeln in Richtung Tür ihres Chefs.

„Danke!“, meinte ich nur und ging zur Tür.

Ich klopfte und trat ein.

„Hallo Finn, was kann ich für sie tun?“

Mit einer einladenden Handbewegung, zeigte er auf den Sitz ihm gegenüber am Schreibtisch.

„Hallo Paul, nett, dass sie Zeit haben“, sagte ich und ließ mich auf den Sitz nieder.

Dieser hatte noch eine leichte Restwärme meines Vorgängers.

„Für sie immer doch! Also, um was geht es.

Ich schilderte ihm, was ich mit David und Blair beobachtet hatte und fragte nach einer Möglichkeit, wie man dies ändern könnte. Er kratzte sich nachdenklich am Kopf und drehte dabei seinen Bürostuhl leicht hin und her.

„Also ich finde, zumachen wäre Raumverschwendung, die Kantine kann man nicht anderswertig benutzen.“

„Aber jemanden entlassen finde ich auch nicht gut.“

„Da haben sie Recht, Finn!“, er notierte sich etwas auf einen Schreibblock, „aber es wird sich generell hier einiges ändern, denn ich habe zu viel Zeit für die Belange von London verwendet und darüber hinaus hier einiges schleifen lassen.“

„So hatte ich das jetzt nicht gemeint, ich…“

„Keine Sorge, Finn. Es ist ein guter Vorschlag und meine Mitarbeiter sollen sich hier ja auch wohlfühlen.“

Dazu fiel mit jetzt nichts ein und ich nickte nur.

„War es das?“, fragte er.

Wieder nickte ich.

„Dann werfe ich sie jetzt aus meinem Zimmer, denn wir haben beide noch zu tun.“

Er lächelte breit und ich erhob mich. Ich war gerade im Begriff zu gehen, als er sich laut räusperte. Ich drehte mich zu ihm.

„Und noch einmal danke wegen David, er ist viel umgänglicher geworden in den letzten Tagen…, dieser Dank kommt auch von meiner Frau!“

Auch hierzu sagte ich nichts, verbeugte mich ganz leicht und ging.

*-*-*

Etwas müde schloss ich mein Programm.

„Für heute reicht es mir“, sagte ich und rieb mir durchs Gesicht.

„Wir sind auch ein ganz schönes Stück weiter gekommen“, meinte David und streckte seine Arme nach oben.

„Steht noch etwas an?“, fragte Blair.

„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete ich und drehte mich zu den restlichen Kollegen.

Der Großteil war schon gegangen, so konnten wir das auch tun. Ich erhob mich und zog meine Jacke vom Stuhl.

„Dann lass uns mal ganz schnell verschwinden, bevor uns noch jemand zu Überstunden verdonnert“, sagte ich und wickelte meinen Schal um dem Hals.

Blair trat zur mir heran.

„Du bist der Abteilungsleiter“, flüsterte sie, „wer soll uns sonst mehr Arbeit aufbrummen wollen.“

Ich streckte ihr die Zunge heraus und sie fing an zu grinsen.

„Dann wünsch ich euch einen schönen Abend, man sieht sich morgen wieder“, meinte sie, schnappte sich ihre Handtasche und lief Richtung Ausgang.

David nickte mir zu und wir folgten ihr zur Tür hinaus. Wenig später saß ich neben David in seinem Wagen und wir verließen gerade die Tiefgarage, als ein Wagen scharf, auf der Straße vor uns bremste.

Ich konnte den Fahrer erkennen, es war niemand anders als Thomas. Der Wagen war aber so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Ich schaute noch immer auf die Stelle, wo das Gefährt meines Bruders gerade noch gestanden hatte.

„Hat der einen Knall? So ein Arsch“, fluchte David neben mir und gab Gas.

„Das…, das war mein Bruder.“

David stoppte den Wagen.

„Dieser Thomas?“

Ich nickte und David schwieg.

„David…, könnten wir irgendwo hinfahren…, ich möchte jetzt nicht nach Hause.“

Er schien zu überlegen.

„Okay“, meinte er nur und der Wagen rollte erneut an.

*-*-*

Er hielt vor einem kleinen Mehrfamilienhaus. Vier oder sechs Wohneinheiten, ich konnte ich nicht richtig einschätzen.

„Wo sind wir hier?“

„Bei mir“, sagte David und verließ den Wagen als erstes.

Ich stieg ebenso aus und schaute mich um.

„Es ist uns niemand gefolgt“, sagte David. Ich schaute ihn ohne etwas darauf zu sagen an und folgte ihm dann ins Haus.

Als wir wenig später seine Wohnung betraten, war ich doch etwas überrascht. Nichts ließ darauf hindeuten, dass David sozusagen aus reicherem Hause stammte, denn die sogenannte Wohnung, war eher spartanisch eingerichtet.

Es handelte sich um ein Zimmer mit Kochnische und hinter einer weiteren Tür vermutete ich das Bad. Es erinnerte mich an die Wohnung, die ich vorher mein Eigen nannte, nur dass diese etwas größer war, als Davids Wohnung hier?

„Was ist?“, fragte David.

Er hing seinen Mantel an einen Kleiderbügel am Schrank.

„Etwas leer und klein…“, antworte ich und öffnete den Reisverschluss meiner Jacke.

„Habe auf die Schnelle nichts Besseres gefunden… Als ich nach London ging, habe ich meine alte Wohnung aufgegeben, weil ich eigentlich dachte, länger in London zu bleiben.“

„Was hat deine Meinung geändert?“, fragte ich und hing meine Jacke über den Stuhl, der vor mir stand.

Er drehte sich wieder in meine Richtung.

„Ich wusste damals nicht, wie sehr mit Edinburgh fehlen würde…“

„Nur Edinburgh?“

Er atmete tief durch, hob etwas die Arme, als wollte er mir sagen, weiß nicht!

„Hast du dich schon weiter umgeschaut, soll ich dir helfen?“

Er winkte ab.

„Nein, wenn ich ehrlich bin, genügt mir das im Augenblick. Meine anderen Sachen, die ich in London nicht dabei hatte, sind sowieso bei Paul und Glenda eingelagert.“

„Sie kennen die Wohnung?“

„Gott bewahre, Glenda hätte mich sofort wieder nach Hause zurück geholt… setz dich doch…“

David zeigte auf dem Stuhl über den ich die Jacke gehängt hatte. Er selbst ließ sich auf der kleinen Couch nieder, bei der ich befürchtete, dass dies auch sein Nachtlager war. Ich konnte sonst keine andere Schlafgelegenheit entdecken.

„Wäre dass so schlimm? Ich meine, das hier passt irgendwie gar nicht zu dir.“

„Bei Glenda zu wohnen wäre an sich nicht schlimm, wenn ich …“

Er brach ab.

„… wenn du nicht dauernd Phillip über den Weg laufend würdest. Er war heute übrigens in der Bank.“

„Ja? Ich habe ihn gar nicht gesehen“, erwiderte er, noch leiser, als eben.

Dabei schaute er zu Boden. Ich erhob mich, lief zu ihm und ging vor ihm vor die Knie. Ich hob sein Gesicht und schaute in seine traurigen Augen.

„Wie lange trauerst du noch dieser Freundschaft hinter her? Das tut dir nicht gut!“

„Er fehlt mir halt“, hauchte er leise, „…er war meine erste große Liebe.“

Da hatte er mir etwas voraus, ich hatte noch nie einen festen Freund.

„Er verdient deine Liebe nicht!“

„Das weiß ich doch…“

Erste Tränen liefen über seine Wangen. Ich hob meine Hand fasste an seine Wange und versuchte sie mit dem Daumen wegzuwischen.

„Es hat nichts geholfen…, ich dachte wenn ich nach London gehe, ihn nicht mehr sehe, dann komme ich darüber hinweg…, aber es wurde immer schlimmer…“

Ich nahm ihn einfach in meinen Arm und er legte seinen Kopf auf die Schulter.

„Es tut einfach nur weh…“

„Das verstehe ich…“, meinte ich, obwohl ich mir nicht richtig sicher war, ob ich es auch wirklich verstand.

Ich kannte diese Art Schmerz nicht, weil ich noch nie in so einer Situation war. Aber war es eigentlich nicht egal, aus welchem Grund man von jemand enttäuscht wurde, war es nicht irgendwie der gleiche Schmerz.

Aber der Aspekt der Liebe,  war ein anderer. Familienliebe, Bruderliebe war etwas anderes, als wenn man einen anderen Menschen richtig von Herzen liebte. David löste sich von mir, wischte sich die Tränen ab. Er lächelte kurz.

„Eigentlich sind wir wegen dir hier, wegen deinem… Bruder, da komm ich mit meinem Problemen… unpassend, findest du nicht auch?“

„Nein!“, ich schüttelte den Kopf, „deine Gefühle sind genauso wichtig, wie meine!“

Er rutschte etwas zur Seite und machte mir Platz. Ich erhob mich aus meiner unbequemen Stellung und ließ mich neben ihm nieder.

„David, so wie du dir Sorgen um mich machst, so mache ich mir natürlich Sorgen um dich!“

Er schaute zu Boden und fing plötzlich an zu kichern.

„Was ist daran so lustig?“

Das Kichern reduzierte sich zu einem sanften Lächeln.

„… hört sich an, als wären wir ein Paar, das schon lange zusammen ist.“

„Wäre da so abwegig?“

David sah mich durchdringend an.

„Es war immer ein Traum, mit jemand zusammen zu sein und alles zu teilen, zusammen alt werden…

„Hat so einen Traum nicht jeder?

Wir blickten uns beide lange an, ohne dass David mir eine Antwort gab. Unsere Köpfe wanderten langsam aber kontinuierlich  aufeinander zu. Als unsere Gesichter nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt waren, klingelte mein Handy.

 

 

 

 

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