Nach diesem kurzen, für mich überraschendem Gespräch schob mich Fastrick vor sich her zurück ins Klassenzimmer, in dem ich mit gesenktem Kopf zurück auf meinen Platz ging. Auf meinem Weg dorthin sah ich kein einziges Mal auf.
„So, ihr habt jetzt die Wahl”, begann Fastrick, „entweder ihr schreibt mir eine kleine Beschreibung dessen, was ihr gerade gelesen habt, oder wir reden über den Bockmist, der da gestern abgelaufen ist.”
Ich traute mich noch immer nicht aufzuschauen, sicherlich waren jetzt einige böse Blicke auf mich gerichtet.
„Können wir was dafür, wenn Fabian das persönlich nimmt?”, kam es von Carsten.
Nun wagte ich es doch, meinen Blick zu heben.
„Sorry, ich weiß nicht, wie du auf ‚dreckiger Schwanzlutscher’ reagieren würdest”, meinte ich trotzig und zog die Nase hoch.
Carmen reichte mir sofort ein Tempo, das ich mit einem dankenden Nicken annahm und meine Nase putzte.
„He, das war doch nur Spaß!”
„Da habt ihr vorhin aber noch anders gesprochen”, kam es von Susanne.
Darauf sagte Carsten nun nichts. Mein Blick indes wanderte weiter zu Marcel, der aber nur unbeteiligt zu Boden sah. Er ging mir offensichtlich aus dem Weg. Zwar war mir auch klar, warum, aber es tat trotzdem schrecklich weh.
„Carsten, was hast du gegen Fabian?”, mischte sich nun Fastrick wieder ein.
„Eigentlich nichts…”, antwortete Carsten.
„Aber?”, fragte Fastrick ungeduldig weiter, als Carsten nicht weiter sprach.
„Tut mir Leid…, ich komme damit nicht klar… Fabi schwul… das passt nicht zu ihm… das ist nicht er… wie steht denn jetzt unsere Mannschaft da?”
„Kommt noch jemand mit Fabians Schwulsein nicht klar?”, fragte Fastrick allgemein in die Runde.
Am liebsten wäre ich jetzt augenblicklich im Erdboden versunken, denn fast alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich wartete darauf, dass nun bestimmt alle Hände vernichtend nach oben gingen. Aber das geschah nicht.
„Also, mir macht es nichts aus, dass Fabi schwul ist”, kam es von Chrisi, „er muss nur die Finger von meinem Henning lassen.”
Allgemeines Gelächter zog sich durch die Klasse, sogar ich selbst konnte ein Schmunzeln nicht verhindern. Henning war auch nicht unbedingt mein Typ. Er war mir zu dünn und sah irgendwie etwas verschoben aus. Mir gefiel ein anderer Typ von Kerl.
Mein Blick wanderte wieder zu Marcel, was jedoch mein Lächeln sofort verschwinden ließ, als wir uns direkt in die Augen sahen. Sein Blick war kalt und abweisend und bohrte sich wie ein Dolch in mein Herz.
Wieder kämpfte ich gegen meine Tränen an und ließ meinen Blick sinken. Mit vielem würde ich hier klar kommen, aber nicht, wenn sich Marcel von mir abwenden würde. Als die allgemeine Heiterkeit verstummte, waren nun alle Blicke auf Carsten gerichtet.
„Was denn?”, fragte dieser genervt.
„Du scheinst der einzige zu sein, der Schwierigkeiten mit Fabian hat”, meinte Fastrick trocken feststellend.
„Ist ja schon gut…, von mir wird nichts mehr kommen, aber ihr werdet schon sehen was ihr davon habt!”
„War das eine Drohung?”, wollte nun Fastrick fast lauernd wissen, doch Carsten schwieg mit einem trotzigen Ausdruck in den Augen.
*-*-*
Mum wuschelte mir durch die Haare. Es war schon spät geworden und ich saß immer noch über dem Abendessen. Den ganzen Mittag Schule und dann noch Klavierunterricht. Ich hasste den Dienstag. Meine Schularbeiten hatte ich in der Freistunde schon erledigt, so musste ich mich jetzt nicht auch noch damit quälen.
„Du hast das zweite Türchen an deinem Adventskalender noch nicht aufgemacht”, meinte Mum lächelnd.
„Och Mum, findest du nicht, dass ich etwas zu alt für sowas bin?”
„Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest… da hängt ein anderer Kalender.”
Nun schaute ich doch überrascht an die Wand neben der Tür und tatsächlich, da hing ein neuer Kalender. Nicht diese 0815-Kalender, die man überall im Laden kaufen konnte. Dass mir der noch nicht aufgefallen war, besonders, da ihn viele hübsche Boys zierten. Wo hatte Mum den nur her? Bei näherem Betrachten fiel mir aber auf, dass er selbst gebastelt war. Jetzt noch überraschter schaute ich wieder zu meiner Mutter, nur um sie schon fast frech grinsen zu sehen.
„Jetzt mach schon”, drängte sie mich, als ich noch immer keine Anstalten machte.
Hunger hatte ich eh keinen mehr, also schob ich meinen Teller weg und stand auf. Die Bilder hatte sie sich wohl im Internet herunter geladen und bevor ich nun das zweite Türchen suchte, schaute ich mir die Boys erst mal näher an.
Ein kleiner Seufzer entfleuchte meinem Mund, als ich die hübschen Jungs sah. Einer von denen würde mir ja schon reichen. Schließlich entdeckte ich die Zwei auf einem der Türchen und öffnete es neugierig. Zum Vorschein kam aber kein Stückchen Schokolade, wie es bei Adventskalendern üblich gewesen wäre, sondern ein zusammengefalteter Zettel.
Fragend schaute ich Mum an, die sich aber nur mit der Schulter zuckend wegdrehte. Also zog ich den Zettel heraus und faltete ihn auseinander. Darauf geschrieben stand ein Spruch:
Liebe und tu was du willst!
Diesen Satz verstand ich nicht so wirklich, also suchte ich einfach nach dem Türchen vom Vortag, das ich ja auch noch nicht geöffnet hatte. Es war zwar durch die vielen schwarz-weiß Bilder nur schwer zu finden, aber schließlich entdeckte ich es doch noch direkt neben der Neunzehn. Beim Öffnen fand ich wieder einen gefalteten Zettel vor, den ich auch sogleich entfaltete und neugierig las:
Wenn du den triffst,
den du dein ganzes Leben
lang gesucht hast,
wirst du augenblicklich
mit deinem ganzen Leben
antworten.
Natürlich wollte ich meine Mutter fragen, welche Gedanken sie bei diesen Sprüchen gehabt hatte, doch sie war zwischenzeitlich aus der Küche verschwunden und war auch nicht mehr auffindbar. Also nahm ich beide Zettel an mich, griff nach meinem Rucksack und marschierte in mein Zimmer hinauf. Dort verschlug es mir abermals die Sprache, denn scheinbar war meine Mutter auch hier eifrigst tätig gewesen. Es war aufgeräumt.
Aber das war nicht das Einzige, was mir sofort auffiel. Im ersten Moment hatte ich mich sogar gefragt, ob ich vielleicht versehentlich in einem fremden Zimmer gelandet war und nun erinnerte ich mich auch wieder an meine Verwunderung über den frischen Farbduft im Haus, als ich nach Hause gekommen war.
Die Wand am Kopfende meines Bettes, von dem ich mir gar nicht mehr so sicher war, dass es überhaupt meines war, war plötzlich in dunkelrot gestrichen und auch meine alten Poster waren verschwunden. Eigentlich hatte ich die schon längst abhängen wollen, es aber aus Faulheit immer wieder vor mir her geschoben. Dafür hingen jetzt über dem Bett drei große quadratische Bilder. Wo hatte Mum die nur her? Sie musste sich wirklich in Unkosten gestürzt haben, denn es waren Kunstdrucke in schwarz-weiß. Und was war drauf? Natürlich… Boys. An der linken Zimmerwand hingen dagegen wahnsinnig schöne Landschaftsmotive.
Auch an der rechten Wand hatte sich einiges verändert, dort stand nun eine neue Couch und daneben ein kleines Tischchen mit Kerzen darauf. Direkt darüber waren Regale angebracht, auf einem konnte ich einige meiner Romane entdecken. Ansonsten standen da Figuren, Kerzen oder einfach bunte Gläser.
Auch auf der Fensterbank hatten neue Pflanzen ihren Platz gefunden, was auch ganz gut passte, denn die alten hätten es wohl nicht mehr lange gemacht. Und überall im Zimmer verteilt brannten Kerzen. Ungläubig ließ ich meinen Rucksack zu Boden gleiten. Wie hatte Mum das nur fertig gebracht?
Es gefiel mir wirklich… meine Mutter hatte meinen Stil getroffen und zwar komplett. Als ich gedacht hatte, nun könne mich nichts mehr überraschen, entdeckte ich auch noch neue Bettwäsche, die unter einer kuscheligen Decke hervor lugte. Daneben, am Rande des Bettes zierten einige Kissen noch als krönenden Abschluss.
Da klopfte es leise an meiner Tür.
„Ja?”
Die Tür öffnete sich und ich sah die fragenden Gesichter meiner Eltern.
„Und… gefällt es?”, fragte Dad.
Ich war der Sprache nicht mehr mächtig, so ergriffen war ich. Mein Zimmer hatte sich komplett verwandelt. Ich nickte nur langsam und ließ meinen Blick weiter durch das Zimmer schweifen. Immer noch fielen mir neue Details auf.
„Ich glaube, du hast seinen Geschmack getroffen”, meinte Dad zu Mum.
„Findest du?”
„Schau doch, er ist total sprachlos.”
„Wann habt ihr das gemacht… heut morgen sah noch alles ganz anders aus.”
„Du weißt doch, deine Mum guckt immer die vielen Dekosendungen…, wie sie es allerdings angestellt hat, dein Zimmer so zu verwandeln, bleibt wohl ihr alleiniges Geheimnis.”
Meine Mum lächelte.
„Danke Mum!”, meinte ich und umarmte sie.
„War eh längst fällig, oder wolltest du ewig in deinem alten Kinderzimmer wohnen?”
Ich schüttelte glücklich den Kopf.
„Dann lassen wir dich mal wieder alleine, in deinem neuen Reich”, bot mein Dad an und wie aufs Stichwort klingelte es in dem Moment unten an der Tür.
„Wir müssen eh runter, da scheint jemand zu kommen”, sagte Mum und verschwand.
Mein Dad folgte ihr und so war ich wieder alleine in meinem Zimmer. Neugierig öffnete ich nun den Schrank. Nein, neue Klamotten hatte ich nicht bekommen, aber dafür waren die alten feinsäuberlich eingeräumt.
Also schloss ich die Tür wieder und setzte mich auf meinen Bürostuhl. Auch der war neu und extrem bequem. Ich drehte mich mehrmals im Kreis und ließ meinen Blick immer wieder durchs Zimmer wandern. Erst ein erneutes Klopfen an meiner Tür ließ mich innehalten.
„Du, Gabriela ist da, sie wollte dich besuchen”, bekam ich von meinem Dad zu hören.
Gabriela. Meine beste Freundin seit dem Kindergarten. Sie wohnte im Nachbarhaus und wir gingen sogar in die gleiche Schule, nur waren wir leider nicht in den gleichen Klassen.
„Klar, soll hochkommen. Die wird staunen!”, meinte ich und Dad grinste.
Ein paar Sekunden später hörte ich Gabrielas Stimme im Treppenhaus.
„Und was habt ihr im Haus machen lassen? Das waren ja extrem viele Handwerker.”
„Lass dich überraschen, du wirst es gleich sehen”, hörte ich Dad sagen.
Die angelehnte Tür ging auf und Gabriela kam herein. Das heißt, sie blieb im Türrahmen stehen und verlor beinah ihren Unterkiefer.
„Wow, was ist denn mit deinem Zimmer passiert?”, fragte sie überrascht, während sie eintrat.
„Cool, gell?”
„Megacool! Und du wusstest das?”
„Nein, das habe ich auch eben erst entdeckt.”
Gabriela schloss die Tür hinter sich und blieb erneut stehen.
„Also hier fühl ich mich wohl, hier bleibe ich”, meinte sie und ließ sich vorsichtig auf das Sofa nieder.
„Ich bin wie du auch ganz weg, ich wusste wirklich nichts von Mums Plänen.”
„Hast du es gut, meine Mum kommt nie auf solche Ideen.”
Ich musste grinsen.
„He, die Boys sind ja absolut süß auf den Bildern… hmm… so einen hätte ich auch gerne.”
„Da sind wir ja schon zwei!”, grinste ich.
„Ach du, warum du noch keinen Freund hast, versteh ich eh nicht. Schau dich an, Mr. Right höchstpersönlich.”
„Tja…, das findest du…, aber sonst niemand.”
„Wir beide werden schon noch einen abkriegen!”
„Dein Wort in Gottes Ohr”, sagte ich und Gabrielas Zähne kamen zum Vorschein, als sie lächelte.
„Ich denke, du wirst mich jetzt wieder öfter am Hals haben, hier kann man es wirklich aushalten.”
„Teekränzchen?”, fragte ich, nachdem ich ein Teeservice in einem der dicken Regale entdeckt hatte.
„Klar, warum nicht.”
„Hat es eigentlich einen Grund, warum du heut Abend rüber kommst?”
„Muss ich denn dafür einen Grund haben?”
„Dazu kenne ich dich zu gut, Schätzchen.”
„He, du sollst mich doch nicht immer Schätzchen nennen!”
„Ich weiß … Schätzchen”, grinste ich.
Dafür kassierte ich erst mal einen Knuffer, bevor meine Freundin zögernd mit ihrem Anliegen rausrückte.
„Okay…, zum Einen hat mich die Neugier rüber getrieben, was hier in eurem Haus am Gange war… und … dann ist da noch etwas Anderes.”
„Was denn?”, hakte ich neugierig nach, als Gabriela nicht weiter sprach und plötzlich seltsam verlegen wirkte.