Das 3. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Wegen heute morgen…”, fing Gabriela dann doch leise an.

Schlagartig war meine gute Laune verflogen.

„Was meinst du?”, fragte ich ernst.

„Dein Outing in der Klasse.”

„Das unfreiwillige….”

„Und wie geht es dir jetzt…, erleichtert… oder noch verstörter?”

Ich muss sagen, nur Gabriela durfte so mit mir reden. Wie gesagt, sie war seit langer Zeit meine beste Freundin und wir hatten keinerlei Geheimnisse voreinander. Sie hatte mich die letzten Monate durch sämtliche Tiefs begleitet.

„Kann ich dir nicht sagen…Angst ist da… weil ich nicht weiß, was auf mich zukommt. Volleyball… na ja, ich weiß nicht, ob sie mich da noch haben wollen… wer spielt denn schon gern mit einem Schwulen.”

„Arsch, du weißt genau, dass du einer der Besten in der Mannschaft bist.”

Gabriela war immer so herrlich direkt.

„Willst was trinken?”, fragte ich statt einer Antwort, weil ich keine Lust auf dieses Thema hatte.

„Ja und draußen regnet es Sterne… Mensch, Fabian… lenk jetzt nicht vom Thema ab. Du siehst viel zu schwarz!”

Ich rollte mit den Augen.

„Also in meiner Klasse hat sich niemand schlecht über dich geäußert und außerdem habe ich auch noch eine andere Neuigkeit für dich… eine positive”, meinte sie.

Ich kannte diesen Blick von Gabriela. Wenn sie so schaute, heckte sie immer etwas aus.

„Und was sind das für Neuigkeiten?”

„Wir bekommen zwei Neue in die Klasse.”

„Wie… jetzt kurz vor Weihnachten noch?”

„Ja!”

„Und wen?”

„Brüder. Sie sind erst hierher gezogen. Morgen kannst du sie dir selbst in Anschein nehmen.”

„Gabriela…, was heckst du wieder aus?”

„Ich? Nichts?”, sagte sie und legte eine Unschuldsmine auf.

„Nein, überhaupt nicht…! Woher weißt du überhaupt schon, dass sie zu euch in die Klasse kommen?”

„Der Direx war heute kurz mit ihnen da und hat sie vorgestellt. Es sind Zwillinge…”

„Ja und?”

„Wirst du spätestens morgen sehen…”, antwortete sie und schaute auf ihre Uhr, „Mist, ich muss dann wieder rüber. Ich habe gesagt, ich bin in fünf Minuten wieder da.”

„Deine Mum weiß doch, wo du bist. Sie weiß auch, dass du es nie und nimmer einhältst, wenn du bei mir bist”, grinste ich.

„Da hast du auch wieder Recht. Also, man sieht sich morgen.”

Und schon war sie wieder verschwunden. Ich stand auf, nahm meinen Rucksack und packte ihn für den morgigen Tag. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich sowieso bald ins Bett gehen würde. Ich war so müde, dass ich eh schon die ganze Zeit gähnte.

Also zog ich mich aus…, wo sollte ich denn jetzt die Klamotten hinlegen? Irgendwie traute ich mich nicht, in dem neuen Zimmer irgendetwas in Unordnung zu bringen. Fein säuberlich gefaltet legte ich also meine Sachen über den Bürostuhl und lief in Shorts zum Bad.

*-*-*

Das erste, was ich am Morgen machte, war, so wie ich war in die Küche zu rennen, um meinen Adventskalender zu überfallen. Ich war furchtbar neugierig und aufgeregt wie ein kleines Kind, was heute wohl drin stehen würde.

„Nanu, schon wach?”, fragte Mum, die schon in der Küche beschäftigt war, überrascht.

„Ja, bin sogar vor meinem Wecker aufgewacht.”

„Kaffee?”

„Klar, aber erst muss ich das dritte Türchen aufmachen.”

Mum grinste und holte eine Tasse aus dem Hängeschrank.

Ich pfriemelte währenddessen extrem ungeduldig das dritte Türchen auf. Der Zettel darin fiel mir regelrecht entgegen, ich schnappte ihn und faltete ihn nervös auseinander.

Dein Geist wird größer,

wenn es in deiner Seele warm wird.

Wieder so ein Spruch, mit dem ich nichts anfangen konnte. Da wurde mir bewusst, dass ich noch immer nur in Shorts in der Küche stand und konnte deswegen zumindest das Grinsen meiner Mum nachvollziehen. Also lief ich wieder in mein Zimmer und zog mich an. Dann schnappte ich mir noch gleich meinen Rucksack und was ich sonst noch für die Schule brauchen würde und gesellte mich wieder zu meiner Mutter in die Küche, um mit ihr noch einen Kaffee zu trinken.

*-*-*

Wie kann Schule nur so langweilig sein? Draußen war es noch nicht mal richtig hell und wir mussten schon im Unterricht sitzen und büffeln. Wobei ich aber ohnehin befürchtete, dass es an diesem Tag nicht viel heller werden würde, denn es war Regen angesagt, der später in Schnee übergehen sollte.

In der Klasse lief anscheinend wieder alles normal. Keiner quatschte mich wegen gestern an. Einzig und allein Carsten bedachte mich mit bösen Blicken, aber den hatte ich noch nie so richtig ernst genommen. Er sah zwar verdammt gut aus, aber das war auch schon der einzige Pluspunkt, den ich an ihn vergeben konnte.

Nur einer in der Klasse hätte die Höchstzahl von mir bekommen… Marcel. Aber der hatte sich von mir abgewandt und redete kein einziges Wort mehr mit mir. Soviel also zum Thema „bester Freund”. So hatte ich ihn eigentlich nicht eingeschätzt, doch was solls. Ich konnte ohnehin nichts daran ändern.

Klar, es tat weh, besonders wenn er an mir vorbei lief und mich nicht mal eines Blickes würdigte. Aber wie schon gesagt, hinterherlaufen würde ich ihm nicht… ein klein wenig Stolz hatte ich auch noch.

Meine Gedanken wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen, woraufhin sie auch gleich geöffnet wurde und unser Direx mit einem mir unbekannten Jungen zum Vorschein kam.

Dieser wurde als Thomas vorgestellt und würde ab jetzt unsere Klasse besuchen. Der Direx erwähnte außerdem, dass Thomas’ Bruder in der Parallelklasse untergebracht worden wäre und dies sein Zwilling wäre. Hatte Gabriella nicht schon gestern erzählt, der Direx hätte sie gestern beide bei den anderen vorgestellt.

Warum trennten sie die Zwillinge plötzlich? Diese Frage würde wohl noch eine Weile unbeantwortet bleiben, denn der Direx wünschte uns noch einen schönen Unterricht und verschwand dann wieder.

Da Marcel ja nicht mehr neben mir saß, hatte ich den einzigen freien Platz neben mir, deshalb setzte sich Thomas neben mich. Unsere Englischlehrerin führte ohne große Verzögerung ihren Unterricht fort, sodass gar keine Zeit aufkam, sich näher mit dem Neuen zu befassen. Dies musste eben bis zur die Pause warten.

Was ich aber schon während des Unterrichts feststellen konnte war, dass Thomas sehr gut in Englisch war. Frau Kribisch hatte ihn desöfteren dran genommen und er hatte bei jedem Mal fehlerfrei antworten können. Das war natürlich auch den anderen aufgefallen und auch dementsprechend überraschte Blicke in seine Richtung geworfen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ertönte endlich der Gong und Frau Kribisch zog ihres Weges. Der danach ausbleibende Ansturm auf unseren Tisch beziehungsweise auf unseren neuen Mitschüler hielt sich in Grenzen, was mich schon sehr wunderte.

„Willst du wirklich neben diesem Schwuli sitzen bleiben?”, hörte ich es von meiner Linken.

Das war natürlich Carsten. Na super. Mein Tag war gelaufen, aus mit der Ruhe.

„Carsten, halt doch einfach dein blödes Maul”, kam es von der Tür.

Ich schaute auf und erblickte Gabriella an der Tür. Wenigstens ein Hoffnungsschimmer.

„Jetzt lässt er sich schon von Mädchen beschützen”, lästerte Carsten weiter.

Ich versuchte noch immer ruhig zu bleiben, ebenso wie Thomas. Zumindest machte er keine Anstalten, den Platz neben mir zu verlassen. Als auch sonst niemand aus der Klasse auf Carsten reagierte, sprang dieser auf und verließ verärgert das Klassenzimmer. Gabriella indes schlüpfte zwischen den Tischen hindurch zu meinem Platz.

„Siehste, er schadet sich nur selbst.”, meinte sie zu mir und schaute dann zu Thomas.

„Hi, du musst Thomas sein, dein Bruder ist in meiner Klasse.”

„Hi”, war das Einzige, was der Angesprochene über die Lippen brachte. Er schien etwas in seiner Tasche zu suchen oder tat zumindest so.

„Man kann euch wirklich nicht auseinanderhalten, also wenn ihr nich verschiedene Klamo…”

„Könntest du mich vielleicht bitte mit meinem Bruder verschonen?”, fragte Thomas genervt, stand auf und verschwand.

Oha, was war das denn eben? Gabriella schaute mich genauso ratlos an wie ich sie.

„Da habe ich wohl ein Fettnäpfchen erwischt”, meinte sie.

„Das hast du wohl.”

Gabriella seufzte.

„Ich wollte doch nur nett sein.”

„Wie immer in deiner angenehm unaufdringlichen Art”, grinste ich.

Fassungslos schaute sie noch immer zur Tür, durch die Thomas eben entschwunden war.

Ich dagegen ließ meinen Blick wieder einmal zum Fenster wandern und konnte auch gleich mit einem Seufzen feststellen, dass wir diesmal nicht an die frische Luft konnten. Die ersten Regentropfen prasselten an die Fensterscheiben und es wurden immer mehr.

„Gehst du mit mir in die Cafeteria?”, fragte Gabriella und riss mich aus meinen Tagträumen.

Mit einem Nicken schnappte ich meinen Geldbeutel und begleitete sie nach draußen. Natürlich mussten wir dabei an Marcel vorbei, doch der würdigte mich auch dieses Mal mit keinem einzigen Blick.

„Der ist so ein Arsch”, hörte ich Gabriella neben mir sagen und bedachte sie mit einem traurigen Lächeln.

„Dem würde ich am liebsten meine Meinung sagen.”

„Lass es, was hat das denn für einen Sinn?”, fragte ich.

„So was tut man nicht, Fabian. Die ganze Zeit auf guten Freund machen und sich dann wie das letzte Arschgesicht benehmen.”

Bei Gabriella’s herrlicher Direktheit musste sogar ich grinsen und bemerkte deshalb nicht, dass sich uns jemand angeschlossen hatte.

„Wenn er meint, nichts mehr mit mir zu tun haben zu wollen…, ich renn ihm nicht nach. Soll er doch mit seinen Freunden rumlungern”, meinte ich.

„Von wem redet ihr?”

Ich fuhr zusammen, unser bis dahin unbemerkter Begleiter hatte sich zu Wort gemeldet und ich blickte Thomas überrascht an.

„Von Marcel, Fabians angeblich bestem Freund. Der Ar…”

„Gabriella, lass gut sein. Es ist nicht mehr wichtig.”

„Freundschaft ist wichtig”, sagte Thomas neben mir.

„Aber nicht mit jemandem, der sich aus Gründen, die ich absolut nicht verstehe, so scheiße benimmt.”

„Wegen der Outing – Sache?”, fragte Thomas nun sehr direkt.

Mir stieg die Röte ins Gesicht. Die beiden redeten mit mir über das Thema, als wäre alles eine ganz normale Sache. Moment mal! Es schockierte mich ein bisschen, aber mittlerweile dachte ich schon selbst, dass meine Veranlagung eine abnorme Sache sei.

„Genau”, sprach Gabriella weiter, „ist das ein Grund, seinen besten Freund im Stich zu lassen?”

„Mein Bruder hatte da überhaupt keine Schwierigkeiten. Der war sogar immer Mittelpunkt.”

„Dein Bruder?”, klang es fast gleichzeitig aus Gabriellas und meinem Mund.

„Ja, der ist doch auch schwul. Wusstet ihr das nicht?”

Verwundert schaute ich meinen Nebenmann an und rannte deswegen fast einen Fünftklässler über den Haufen.

„Mensch. Pass doch auf!”, fuhr mich der Kleine an, woraufhin Gabriella sofort kicherte.

„Sind hier alle so giftig?”, kam es Thomas wenig begeistert.

„Nein, normalerweise nicht”, antwortete meine beste Freundin und kicherte weiter.

„Dein Bruder ist… schwul und hat keine Probleme damit?”, hakte ich noch mal nach.

„Nein, eher das Gegenteil. Alle scharen sich immer um ihn und ich habe das Nachsehen.”

„Tja, dann tun sich für dich neue Türen auf, denn wir scharren uns nicht um ihn, oder Fabian?”

„Nein, ich kenne ihn ja nicht mal.”

„Du bist nicht an ihm interessiert, ich meine…”, er brach mitten im Satz ab, was mich dazu bewegte, stehen zu bleiben und Thomas nun direkt anzusehen.

„Hör mir mal zu Thomas. Ich kenne weder dich noch deinen Bruder, noch habe ich Interesse, nach dieser Aktion von gestern einen Freund kennen zu lernen. Halt, das hört sich blöd an. Ich meinte, Freund im Sinne von Boyfriend. Klar, möchte ich dich näher kennen lernen.”

„Ja, aber ich bin nicht schwul…”

Oh, da hatte wohl jemand arge Schwierigkeiten mit sich selbst.

„Was hat das denn damit zu tun?”, fragte Gabriella und kam mir mit dieser Frage zuvor.

„Ach, ich weiß auch nicht”, kam es von Thomas, „sorry, ich bin etwas durch den Wind.”

„Wer ist das nicht”, stimmte ich ihm zu.

Wir bogen gemeinsam um die Ecke und betraten die Cafeteria. Wie erwartet waren bei diesem Wetter schon fast alle Tische belegt. Eine Traube Schüler war im hinteren Teil des Saals auszumachen.

Und inmitten dieser Schüler auch das Gegenstück zu Thomas. Er hatte tatsächlich die gleichen Klamotten wie sein Bruder an. Nur waren seine Haare mit Gel in alle Himmelsrichtungen drapiert, während Thomas’ dunkle Haare glatt runter hingen.

„Habe ich nicht gesagt, er ist der Mittelpunkt. Thorsten schafft das immer wieder.”

„Also, ich hol mir jetzt eine heiße Schokolade”, meinte Gabriella, was mich sehr verwunderte.

War es doch eigentlich sie diejenige, die immer sehr neugierig an erster Stelle stand.

„Wollt ihr auch eine? Bin heut in Spendierlaune.”

„Da sag ich nicht nein”, meinte Thomas mit einem Grinsen und schaute mich an.

„Was ist?”, fragte Gabrielle, die meinen starren Blick als erstes bemerkte. Und als ich nicht darauf antwortete, folgte sie einfach meinem Blick und konnte nun auch Marcel ausmachen, der in diesem Moment genau auf uns zusteuerte.

„Wer ist das?”, fragte Thomas leise, der unseren Blicken gefolgt war.

„Marcel”, antwortete Gabriella knapp.

„Oh”, sagte Thomas.

„Ja OH!”, erwiderte sie.

Marcel hatte uns mittlerweile erreicht. Etwas unbeholfen baute er sich vor mir auf.

„Können wir … reden?”, kam es leise von ihm.

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