Der Osterhase

[singlepic=58,150,139,right]Der Osterhase wurde zum ersten Mal 1682 von Georg Frank erwähnt.

In seinem Buch heißt es: „…in Elsaß und den angrenzenden Gegenden nennt man diese Eier Haseneier auf Grund der Fabel, mit der man einfältigen im Geiste und Kinder weissmacht, der Osterhase lege solche Eier und verstecke sie in den Gärten im Grase, damit sie von den Kindern zum Ergötzen der lächelnden Erwachsenen desto eifriger gesucht werden.“

Konkurrenz bekommt der Osterhase im bernischen Emmental, im Kanton Zug und Luzern lieferte die Eier der Kuckuck, in Thüringen der Storch und in Westfalen stellenweise der Fuchs. In Sachsen und Holstein soll es der Hahn gewesen sein, der die Eier legte und brachte.

Da der Hase als erstes Tier im Frühling seinen Nachwuchs bekommt, wurde er schnell mit Ostern in Verbindung gebracht.

Pitstories wünscht allen seinen Lesern und Autoren ein froher Osterfest. Viel Spass beim Ostereier suchen und beim Schlemmen der Osterleckereien.

Fotostudio Plange – Teil 25 – 3-2-1-meins

Tja, lieber Leser, ursprünglich hatte ich ja gedacht, dass die Geschichte schon längst beendet wäre, auf soviel Teile war sie wirklich nicht angelegt. Aber, ich muss es zugeben, die Sprünge, die bei nur fünf oder sechs Teilen notwendig gewesen wären, wären wirklich zu groß gewesen, um sie einfach überbrücken zu können. Weiterlesen

Krähenvolk

Als ich meine Augen öffnete war das erste was ich sah eine Wand um mich herum. Eine Wand aus Ästchen und getrocknetem Moos und kleinen, weichen Federn.

Und ich war nicht alleine. Neben mir lag noch jemand. Federchen trug es, wie ich sie hatte und der kleine Kopf lag auf dem Boden, die Augen geschlossen. Es roch merkwürdig hier. Sehr merkwürdig. Ich ob meinen Kopf und sah viele grüne Blätter über mir, dazwischen ein Stück blauen Himmels.

Plötzlich tauchte ein großer, schwarzer Schatten auf und setzte sich, beleitet von einem heftigen Wind, auf den Rand der Ästchen. Majestätisch thronte er auf dem Nestrand und stieß ein lautes „krah“ aus.

Mama. Sie warf irgendetwas in das Nest und ließ sich wieder vom Nestrand in die Tiefe fallen. Neugierig nahm ich das Etwas in Augenschein. War wohl eine Maus gewesen, was sie uns brachte. Gierig schnappte ich nach dem Knäuel und da wurde auch mein kleiner Bruder wach. Kräftig zerrten wir an der kaputten Maus und irgendwie fand ich den Geschmack nicht mal widerlich.

So vergingen die ersten Tage und Wochen. Manchmal war es schon unangenehm wenn es regnete, mein Bruder und ich nass wurden wie die Katzen. Aber meistens kam Mama dann rechtzeitig und setzte sich auf uns. Was war es schön wenn man den Regen prasseln hörte und gleichzeitig die Wärme Mamas auf einem spüren konnte. Auch Papa beteiligte sich am füttern, aber eher seltener. Papa ist übrigens irgendwann nicht mehr zurückgekommen, wir wussten nicht warum.

Eines Tages setzte sich Mama auf den Nestrand und brachte nichts zu essen mit. Sie krähte zum ersten Mal so unheimlich, flatterte auf einen Ast unweit von unserem Nest und sah nur zu meinem Bruder und mir herüber. Wir hatten tierischen Hunger und konnten gar nicht verstehen warum wir plötzlich nichts mehr bekamen. Ich rappelte mich auf, krabbelte zum Nestrand und schrie meine Mama an.
»Krah, krah, krah.«
Aber sie reagierte überhaupt nicht. Ich breitete meine Flügel aus und flatterte vor Wut. Sie saß aber nur da drüben, hüpfte dann auf einen Ast, der noch weiter weg war. Voller Zorn, weil ich Hunger hatte, versuchte ich zu ihr zu gelangen. Mit einem Satz stürzte ich aus dem Nest – und unter mir war nichts.

Nur etliche Meter zum Boden. Ich begann heftig und ungeschickt mit den Flügeln zu schlagen und landete mitten im Blättergewirr des Baumes. Völlig entsetzt rappelte ich mich auf und sah zu Mama hoch. Warum durfte ich nicht zu ihr, warum gab sie uns nichts zu essen?

Mein Bruder saß noch immer auf dem Nestrand und krähte was das Zeug hielt. Mit einem Mal begann er zu flattern und er schaffte es ohne Absturz auf den nächsten Ast. Mama flog noch ein Stück weiter und er hinterher. So ging das also. Wir sollten fliegen lernen. Ungeschickt hüpfte ich auf den nächsten Ast mehr als ich flog, aber es wurde mit jedem Versuch besser. Ich traute mich dann sogar, den nächsten Baum anzupeilen, auf dem Mama mittlerweile saß. Und schwupp, war ich drüben.

Nach einiger Zeit kehrte Mama ins Nest zurück und wir folgten ihr. Wenig später bekamen wir dann auch was zu essen und so vergingen die nächsten beiden Tage.

Dann flog Mama plötzlich fort. Wir sahen, dass sie nach drüben zu dem Feld flog, das gerade abgeerntet worden war. Da sehen wir sie oft hin und herlaufen. Also musste sie unser Essen von dort haben.

Mutig flatterte ich los und plötzlich war es ganz einfach. Nur mit den Flügeln schlagen, sonst musste man nichts tun. Na ja, doch schon, die Schwanzfedern zum steuern, aber das mussten wir erst noch lernen. Die Landung an dem Feld war natürlich alles andere glücklich, Bauchlandung könnte man sagen.
So pickten wir unser erstes Essen direkt selbst, und es gab da auch mal ne Heuschrecke oder einen Käfer zu fassen.

Aber immer wenn wir unterwegs waren, achteten wir auf Mama. Stieß sie einen kurzen Ton aus und hob ab, setzten wir sofort hinterher. Dann waren Menschen oder Hunde in der Nähe und instinktiv wussten wir, dass denen nicht zu trauen ist, selbst wenn sie noch weiter weg waren.

Immer schön Abstand zu ihnen halten war die Devise. Das mit dem Fliegen wurde immer besser und eines Tages war mein Bruder verschwunden. Auch mich zog es plötzlich weg von hier. Etwas anderes sehen, vor allem von oben.

Ich sah Mama neben mir fliegen, dann rief sie mir ein letztes Mal „krah“ zu, bog ab und ich war alleine.

Ich war traurig, aber auch neugierig auf die neue Welt. Was war das fliegen herrlich. Sich manchmal von Aufwinden tragen lassen, ganz hoch, bis unter die Wolken. Ich lernte auch Genossen aus der Luft zu erkennen. Wo sie zahlreich waren, gab’s immer was zu futtern.
Langsam wurden die Tage kürzer, die Nächte kühler. Ausmachen tat mir das nichts, die Federn schützten ausgezeichnet vor Kälte und Wind.

Dann fiel mir auf, dass immer mehr Genossen in Wald und Flur unterwegs waren, auch welche, die anders aussahen als ich. Große, klobige Schnäbel, die meist auch fast weiß waren. Aber es gab keinen Streit unter uns, Futter war genug da für jeden.

Ich lernte mich den riesigen Schwärmen anzuschließen. Immer gab es welche, die nicht auf dem Boden nach Nahrung suchten.

Ein paar hockten in den Bäumen ringsum und beobachteten die Gegend. Unsere Alarmposten. Alle paar Stunde wurde abgewechselt und es waren die älteren unter uns, die Erfahrung hatten in Sachen Gefahr.

War schon imposant wenn sie Alarm schlugen und wir zu Hunderten aufflogen, meist mit Getöse. Dann zogen wir ein paar Kilometer weiter, und das Spiel begann von Neuem.

Tja, und dann kam der Tag wo auch ich zum Alarmposten eingeteilt wurde. Eine ältere Krähe kam auf mich zu, schubste mich mit dem Schnabel und scheuchte mich auf den nächsten Baum. Dort saß schon ein „Kollege“ und betrachtete mich.
»Na, alles klar?«, fragte er plötzlich.
Ich erschrak, denn bisher hatte ich mich noch nie mit jemand hier unterhalten, sogar mit Mama nicht. Man verstand einfach auch so.
»Ja, schon,« gab ich verdutzt zur Antwort.
Wir redeten nicht wirklich miteinander, es war so eine Art Kommunikation ohne Worte. Man spürte Wort für Wort, was der andere dachte.
»Wie bist du hierher gekommen?«, fragte er weiter.
»Halt so. Mitgeflogen.«
Er kicherte.
»Das meinte ich nicht.«

»Was denn sonst?«

»Du bist doch keine Krähe geworden nur weil es so bestimmt war.«

Plötzlich wusste ich, was er meinte. Natürlich. Auf einmal fiel mir alles wieder ein. Wie ein langer Film liefen die Geschehnisse ab. Ungläubig sah ich meinen Nachbarn an.

»Du hast recht.«
„Sag ich doch.«
»Und du, was ist mit dir?«
»Bin auch freiwillig hier.«
Immer deutlicher wurden die Bilder der Vergangenheit. Und nun atmete ich tief durch, sah mich um von dem hohen Baum aus. Die Wolken über uns, unsre Gesellschaft da unten, den Fluss am Horizont in der Sonne glitzern. Ja, genau das hatte ich haben wollen. Damals..
»Willst du es mir erzählen?«, fragte mein Nachbar.
»Augenblick, mir fehlen noch ein paar Einzelheiten..«
Ich dachte angestrengt nach und nach einer Weile standen die Erinnerungen Lückenlos in meinem Kopf.
»Jetzt, ja.«
Wir blickten uns um, es war nichts Verdächtiges zu sehen und so begann ich ihm, meine Geschichte zu erzählen. Ich hatte sie verdrängt, was sicher auch Sinnig war. Aber nun wurde mir klar warum ich hier und plötzlich auch glücklich war.
»Ich war ein Junge und bin bei ziemlich reichen Leuten aufgewachsen. Gut behütet kann man sagen. Würde behaupten, auch nicht doof gewesen zu sein, denn die Schule machte mir keine Probleme. Die kamen von ganz anderer Seite.«
Ich überlegte ob ich es sagen sollte, aber so wie die Dinge jetzt lagen konnte nie mehr etwas passieren.

»Und von welcher?«, wollte mein Nachbar wissen.
»Ich bemerkte so mit 15, dass ich.. naja.. eher hübschen Jungs nachsah und Mädchen mich echt kalt ließen.«
»Du warst also schwul..«
»Genau. Die Erkenntnis war für mich nichts Besonderes. Ich hab mich nach ner Weile damit angefunden und für mich war es ok. Aber da waren diese paar Jungs an der Schule, die mich nervös machten sobald ich sie sah.«
Ich meinte, ein vergnügliches Kichern gehört zu haben…
»Jedenfalls kam es dann halt eines Tages zu einem ersten Erlebnis. Daniel, einer aus der Parallelklasse, kam zu mir nach Hause. Er wollte sich eine neue CD anhören die ich mir gekauft hatte. Wir saßen auf meinem Bett und horchten der Musik.. Und auf einmal begann er mich zu streicheln. Das war so was von wunderschön.. Ich tat nichts, lag nur da und genoss. Dann gab er mir sogar einen Kuss, den ersten meines Lebens.«
Ich traute mich, meinen Nachbarn anzusehen, und der hatte plötzlich einen richtig verklärten Blick.

»Daniel? Weiter..«, sagte er knapp.
Plötzlich Flügelflattern und Geschrei.
»Ihr Penner, seht ihr das nicht!!?«
Erschrocken fuhren wir herum und sahen die Menschengruppe, die über die Wiesen stolperte und geradewegs auf unsere Genossen zusteuerte.
Drei Alarmrufe reichten, um den Schwarm abheben zu lassen.
»Seid ihr noch zu retten?«
Scheinbar die Oberkrähe, die älteste unter dem Haufen.
»Ihr werdet vorerst keinen Posten mehr beziehen. Abmarsch.«
Zerknirscht über unsere Unachtsamkeit folgten wir der Meute, die nun den Fluss ansteuerte um am Ufer nach verwesten Fischen, Schnecken und Muscheln zu suchen.
Wir ließen uns am Ufer nieder und hielten etwas Abstand, beäugt von misstrauischen Blicken einiger Genossen.

»Müssen wir denn eigentlich mit ihnen ziehen?«, fragte ich meinen Begleiter.
»Eigentlich nicht, aber es sicherer. Man kann nie wissen ob sie uns nicht eines Tages doch wieder bejagen dürfen, die lieben Menschen. Und wenn du dann allein herumziehst – patsch – liegste im Feld und son räudiger Jägersköter apportiert dich.«
Ich schüttelte mein Gefieder. Er hatte natürlich Recht.
»Aber man kann der Meute doch in gebührendem Abstand folgen. Sieh mal, wie sie da stochern und graben. Immer dicht an dicht.«
»Krähen sind nun mal gesellige Vögel, das weißt du ja.«
»Ja, klar.«
»Komm, lass uns da drüben in die Bäume setzen, ich will deine Geschichte weiter hören.«

Wir flogen auf eine der Pappeln am Ufer und ließen die Septembersonne auf unser Gefieder scheinen.

»Wie war das also? Dein erster Kuss?«
»Ja, der war so schön. Und gut geschmeckt hat er auch.«
»He, du warst also wirklich richtig schwul.«
»Sagte ich schon. Daniel wurde mein Freund, zwei Jahre lang.«
»Und dann?«
»Dann zog er fort. Nicht freiwillig, er musste mit seinen Eltern wegziehen.«
»Oh.«

»Ja, es war eine Katastrophe, für uns beide. Wir haben jeden Tag telefoniert, E-Mails geschrieben, SMS geschickt. Aber wie das so ist, im Lauf der Zeit ließ das nach.«

»Und dann?«

Mein Begleiter war auffallend neugierig.
»Hab ich erst Mal nur Frust gehabt. Wollte keinen anderen haben, mein Herz hing immer noch an Daniel, auch wenn unser Kontakt langsam zusammenbrach.«
Ein Windstoß rauschte durch den Baum und wir mussten uns festhalten.
»Scheint nicht mehr weit bis zum ersten Herbststurm«, sagte mein Begleiter.
Ängstlich sah ich mich um. Bisher war es ja angenehm gewesen, aber nun stand der Herbst und der Winter vor der Tür. Hatte ich das bedacht?
»Und dann, ja, dann machte ich meine Lehre als Automechaniker. Da gab’s auf der Berufsschule einer, der verwirrte mir mal wieder den Kopf.«
»Was draus geworden?«
»Ja, das wurde es. Aber da begann das Unheil. Er hatte schon einen Freund und der war ziemlich eifersüchtig. Sandro wollte sich trennen von ihm, aber Timo wollte nicht.«
»Sandro? Timo?«
Mein Begleiter starrte mich an.
»Ja, so hieß er.«
»Hast du ihn kennen gelernt?«
»Timo? Nicht wirklich.«
»Und weiter?«
»Na ja, es war halt nicht einfach. Timo machte richtigen Terror. Rief Sandro an, schickte ihm SMS und E-Mails. Eines Tages hab ich Sandro gesagt, er müsse sich entscheiden.«

»Und was tat er?«
»Er hat sich entschieden, wollte bei mir bleiben. Aber Timo ließ einfach nicht locker. Es war die Hölle. Timo lauerte manchmal vor meiner Haustüre und er ging sicher, dass wir ihn auch sahen. Von der Schule ganz zu schweigen. Da saß er eine Reihe hinter uns, jede Sekunde spürte ich seinen Blick in meinem Rücken. In den Pausen stand er so, dass er jede unserer Bewegungen beobachten konnte. Es war wirklich der reinste Terror.«
»Und du hast niemals mit Timo gesprochen?«
»Doch, einmal, im Sport, da hab ich ihn mit einem Foul niedergestreckt und mich auf ihn fallen lassen. Er soll sofort mit dem Scheiß aufhören. Sandro will nichts mehr von dir, hab ich ihm gesagt.«
»Und er?«
„Das geht dich nichts an. Sandro gehört zu mir.“
»Mehr nicht?«
Nein, mehr nicht. Er hat dann auch nicht aufgehört uns nachzuspionieren.«
Mittlerweile wurde es dunkel. Zeit, die Schlafbäume am anderen Ufer des Flusses aufzusuchen. Unter Tage hätte mir das Alleinsein nichts ausgemacht, aber nachts war ich froh wenn alle eng zusammen in den Bäumen schliefen.

Ich verkroch mich gerne in Mitten der Genossen, denn ab und zu holte sich eine Eule einen von uns und das war dann immer am Rand draußen. Zwar hatten wir auch über Nacht unsere Wächter, aber Eulen waren lautlos, schnell und Zielsicher. Vor ihnen zu warnen war fast nicht möglich. Dafür gab’s dann aber Tagsüber Senge, wenn einer von uns eine Eule in ihrem Schlafbaum entdeckte.

Das geschah aber auch mit Bussarden und Falken. Die wurden gejagt bis sie freiwillig abzogen.

Wir flogen hinüber und der Wind war bereits unangenehm kühl. Nicht mehr lange, und der erste Nachtfrost würde kommen.

Ich hopste, zusammen mit meinem Begleiter, in das Innere des Blättergewirrs. Außen schliefen hauptsächlich die Alten. Es war schon erstaunlich, wie das soziale System hier funktionierte. Sie beschützten die Jungen durch ihr eigenes Leben.

Eines Tages musste ich wohl auch da draußen sitzen, warten, ob ein Raubvogel kommt und mich holt, nur damit den Jungen nichts passiert. Aber ich wusste auch, dass wir über 60 Jahre alt werden konnten. Fast so lang wie ein Menschenleben.

Wir drehten unsere Körper in Windrichtung und plusterten die Federn auf. Wie wohlig warm das doch war, von frieren keine Spur. Unterhalten wollte ich mich nicht mehr, schloss langsam die Augen. Ein Greifmechanismus in den Füßen verhinderte, dass man im Schlaf vom Baum fallen konnte. Nur wenn Sturm ging, da musste man aufpassen.
So döste ich in die späte Dämmerung. Gelegentlich zankten sich ein paar Genossen mit Gekrächze, ansonsten war es ruhig in der Kolonie.
»Sag mal«, fragte mein Nachbar dann noch.
»Ja?«

»Warst du gerne schwul?«
Ich räkelte mich wohlig im Federkleid.
»Oh ja. Ganz bestimmt.«
»Nacht«, hörte ich
»Gute Nacht.«
Am anderen Morgen regnete es. Ich hatte früher schon Regen gehasst. Zwar hielt mein Gefieder das Wasser ab, aber trotzdem war es alles andere als angenehm. Ich wachte früh auf, die meisten saßen noch da und dösten. Auch sie waren nicht begeistert von dem Wetter und nur einige flogen auf, wohl weil sie Hunger hatten.

Mein Begleiter blinzelte missmutig.
»Scheiß Wetter.«
Ich nickte nur. Aber dann kam auch bei mir der Hunger auf. Große Lust auf Suche zu gehen hatte ich nicht.
»Wollen wir rüber zum Kontor? «
Mein Begleiter sah mich an.
»Zum Kontor?«
»Ja, die Futterfabrik. Beim Verladen in die Waggons fällt doch immer genug ab.«
»Da fliegen wir ja eine halbe Stunde.«
»Na und? Dafür ist der Tisch gedeckt.«
Er nickte müde, und wir hoben ab, flogen in geringer Höhe nach Norden.
So früh am Morgen, im Regen und diesiger Sicht bestand keine Gefahr. Plötzlich sah ich einen Milan. Er strich tief unter uns über die Felder. Auch diese Gesellen stellten uns nach, besonders den Jungvögeln im Nest.
»Krah!«, rief ich.
Mein Begleiter folgte meinem Blick und sah den Greifvogel ebenfalls.
»Los, den schnappen wir uns!«, rief ich.
Ein kurzes Nicken und wir klappten die Flügel an den Körper. Mann, was ein Gefühl. Der Wind begann zu pfeifen wir wurden immer schneller und schon stürzten wir uns auf den Milan. Der hatte uns freilich kommen sehen und wich geschickt aus.

Aber unsere Taktik bestand in der Ausdauer. Immer wieder attackierten wir ihn, stießen auf ihn hinab. Manchmal drohte er uns mit seinen Krallen, aber das störte nicht. Gegen zwei konnte er nichts machen, damit war er zu abgelenkt.

Nach etlichen Minuten Luftkampf ruderte er zornig weiter, aber wir ließen nicht locker. Immer wieder hackten wir auf ihn ein, zumindest versuchten wir es. Geschickt drehte er sich in Bodennähe zu uns und stellte die Krallen.

Aber in dem Augenblick wo er sich wieder in Flugrichtung umdrehte, überquerte er die Bahnlinie. Wir sahen nur noch Federn stieben und seinen Körper ins Feld fliegen, als er an die Scheibe der Lokomotive prallte.
»Hey, das war n richtig guter Abgang«, rief mir mein Begleiter zu. ´
Ich nickte und wir drehten ab.
Fast außer Atem kam wir anschließend am Kontor an und schlugen uns den Bauch voll.
Der Regen hatte aufgehört und satt saßen wir oben auf dem Silo des Kontors. Ein paar Genossen waren inzwischen eingetroffen und wir beobachteten sie von oben.
»Nun, wie war das mit Timo?«
Ich schüttelte mein Gefieder auf und blinzelte in die Sonne, die langsam zwischen den Wolken hervor kam und unser Gefieder zu trocknen begann.
»Dann kam der Tag, an dem Timo plötzlich vor der Tür stand.«
»Bei dir zu Hause?«
»Ja. Sandro war nicht da und Timo wollte ihn sprechen. Ich sagte ihm dass er gehen soll, aber nicht, dass Sandor nicht bei mir war. Daraufhin holte er aus und schlug mir mitten ins Gesicht.«

»Was?«

»Ja, ich denke heute, der war total verzweifelt. Ich bin zu Boden gegangen und war ne Zeitlang weggetreten. Ich bekam nur noch mit, wie Timo aus dem Haus rannte. Er hatte wohl Daniel gesucht..«
»Und wo war Sandro?«
»Einkaufen wollte er, mit ein paar Freunden. Das ist nicht mein Fall und deswegen war ich zu Hause geblieben und wartete auf ihn. Als er kam, mich auf dem Bett liegen sah und ich ihm dann erklären musste woher meine geschwollene Backe kam rastete er aus. „Den bring ich jetzt um“, rief er und stürzte aus dem Haus.«
»Was wollte er? Timo umbringen?«
»Ja, das war sein Wortlaut. Natürlich sagt man das so daher. Aber ich bekam trotzdem Angst dass er eine Dummheit machen würde. Also stand ich kurz danach auf und rannte aus dem Haus. Aber ich wusste nicht wo Timo wohnt und Sandro war eh längst verschwunden.«

»Mann, hast wohl einiges mitgemacht.«
Ich blickte meinen Begleiter an.
»Sag mal, ich breite hier mein Leben vor dir aus und von dir weiß ich gar nichts.«
Er schien zu grinsen.
„Meinst du?«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Erzähl erst deine Geschichte fertig.«
Neugierig was er mir zu sagen hatte ließ ich mich auf die Art erpressen.
»Ich bin dann wieder ins Haus, hab mich auf mein Bett gelegt und was zum Lesen gesucht. Ich wollte nichts Anstrengendes, einfach nur ablenken. Und da lag ne Zeitschrift auf meinem Nachttisch. Irgendwas mit Naturkram. Ich nahm es und da war ein Bericht drin über das Leben der Krähen. Wie sie lebten. Und ich dachte mir, wenn ich wieder auf die Welt kommen würde, dann als Krähe. Ich konnte keine Nachteile finden.«
Mein Begleiter schien wieder zu lächeln.
»Und was passierte dann?«
»Das eigentlich unfassbare. An einem Nachmittag kam ich aus der Schule heim. Sandro wollte noch mal in die Stadt was einkaufen und zu mir kommen. Aber vor meiner Tür stand Timo. Ich kannte ihn ja soweit, aber den Blick der mich da traf – unheimlich. Zornig, böse.«
„Was willst du denn noch?“, fauchte ich ihn an.
„Dass du Sandro in Ruhe lässt.“
„Sorry, das geht nicht. Wir lieben uns und das weißt du. Versteh doch endlich: Es ist vorbei, er mag mit dir nichts mehr zu tun haben.“
„Nein, das ist deine Meinung. Du hast ihn beeinflusst, ihn mir weggenommen. Er will nichts von dir, du hast ihn überredet.“
„Verstehst du den Quatsch eigentlich selbst, den du da erzählst?“
Seine Augen funkelten.
„Das ist kein Quatsch. Willst du mit mir darüber reden?“
»Ich dachte mir, schaden kann es nicht, auch wenn ich keine Lust dazu hatte.«
»Und dann?«
»Sind wir losgelaufen. Ein paar Minuten weg von unserem Haus gab einen kleinen Park. Wir setzten uns auf eine Bank und auf einmal fing Timo an zu reden. Über seine Gefühle, sein Leben, einfach über alles. Ich verstand ihn ja, aber dass er Sandro nicht loslassen wollte fand ich einfach zum kotzen. Plötzlich sah mich Timo an, stand auf und stellte sich vor mich.
„Du wirst Sandro nie mehr wiedersehen!“ schrie er.

Und hatte eine Pistole in der Hand. Ich war wie gelähmt, dachte an einen Scherz. Einfach, um mich einzuschüchtern. Aber mir war sehr schnell klar, dass das, was er in der Hand hatte, kein Spielzeug war.«
Mein Begleiter sah mich an.

»Und dann?«
»Ich hörte wohl nur den Schuss, mehr war nicht mehr.«
»Timo…«

».. hat auf mich geschossen, ja. Es dauerte eine Weile bis ich wieder zu mir kam. Ich hatte keine Ahnung wo ich war. Es gab keine Empfindung. Keine Kälte, Wärme, Hitze.. nichts. Ein merkwürdiger Zustand. Und dann sah ich noch einmal die letzten Sekunden. Dieser kleine Feuerblitz aus der Pistole, das Rauchwölkchen danach. Ich spürte die Kugel auf meine Brust auftreffen, wie sie eine Rippe brach und das Eindringen in mein Herz. Der kurze Schmerz, als sie meinen Rücken durchschlug und wohl irgendwo ins Freie flog. Wie ich zusammensackte und dann war es vorbei.«
Mein Begleiter atmete schwer, so als bekäme er keine Luft.

»Und dann warst du hier.«
»Ja, in dem Nest. Ich hatte mir gewünscht nach meinem Tod eine Krähe zu werden, und das ist in Erfüllung gegangen.«
Ich machte eine Pause.

»Nun allerdings fehlt mir deine Geschichte.«
Wir kamen nicht dazu, Leute liefen über das Gelände des Kontors und waren ziemlich laut.
Wir flogen ab, Richtung Mülldeponie. Da gab’s immer was zu futtern und Gesellschaft hatten wir auch. Jede Menge Möwen mischten da mit und manchmal konnte ich mir den Vergleich mit Hitchcock’s „Die Vögel“ nicht verkneifen.
Mein Begleiter und ich landeten in einem Bereich, wo gerade keine Schaufelbagger zugange waren und zudem roch es da ziemlich lecker nach Futter. Wir stocherten in den Abfällen und einige Zeit später flogen wir an den Ortsrand. Ein kleiner Bahnhof und die Leute dort schmissen regelmäßig Reste von wer weiß was ich an die Gleise hin.

Nachdem wir uns gesättigt hatten – vor allem an einem Kaninchen, das wohl totgefahren worden war – flogen wir auf einen Strommast in der Nähe.
»Nun, was war mit dir?«, fragte ich meinen Begleiter.
»Ähnlich wie bei dir. Hatte mich auch verliebt. In einen hübschen Jungen.«

Ich starrte ihn an.
»Du warst auch schwul?«
Er krähte.
»Ja, was dachtest du denn? Ich hätte mir das alles sonst ja gar nicht angehört.«
»Und?«

»Ja, ja, der Junge war wie gesagt sehr hübsch. Und er war meine ganz große Liebe. Er erwiderte sie auch. Aber eines Tages, da kam ein anderer zwischen uns. Und ich wollte von ihm weg.«
In diesem Augenblick dämmerte es mir.
»Wie hast du geheißen, in deinem menschlichen Leben?«, wollte ich dann von ihm wissen.

»Sandro. Und du?«
»Damian.«

Ich wusste nicht was ich noch sagen sollte. Zufall? Niemals. Ich sah ihn an, und er mich.

»Du bist nicht Sandro.«
»Oh doch. Das bin ich. So sicher wie du Damian bist.«
Mein Schnabel stand offen.
»Aber.. wie kommst du hierher?«
»Ich wünschte mir schon als Kind so frei und ungezwungen wie ein Vogel zu sein. Und weil Krähen so alt werden.. Da hab ich mir gewünscht, eines Tages eine zu werden.«
»Ja, aber wie kam es dazu.. ich meine, dass du hier bist?«
»Timo kam eines Abends zu mir, völlig aufgelöst. Er erzählte mir dass er eine Dummheit gemacht hätte und dass es ihm leid tun würde und lauter wirres Zeug. Ich hab gar nicht verstanden was er wirklich wollte.«
»Und weiter?«
»Er zeigte mir plötzlich die Pistole, sagte dass er Damian, also dich, erschossen hätte. Ich sagte ihm noch dass er keinen Scheiß erzählen soll, und wollte ihm die Waffe abnehmen. Wir haben gerangelt und dann hörte ich nur noch einen Schuss. Aber ich war nicht gleicht tot. Ich bin wohl umgefallen, aber ich sah noch wie sich Timo die Waffe an den Kopf setzte und hörte den Knall.«
»Damit… lebt Timo wohl auch nicht mehr. Hat er je einmal gesagt, was er in einem nächsten Leben werden wollte?«
Sandro überlegte, dann sah er mich erschrocken an.

»Ein Raubvogel.«
Ich stutzte.
»Ein Raub.. Ein Milan vielleicht?«
»Möglich.«

Wir schwiegen eine Weile.
»Und damit bist du hier. Ich glaube es nicht.. Sandro..«
»Das Schicksal hat es wohl so gewollt.«
Ich schmiegte mich an ihn, während ein Zug unter uns hindurchsauste und mit dem Fahrtwind unsere Federn durchwirbelte. Sanft rieb Sandro seinen Schnabel an meinem.

»Wir werden nie so zusammenkommen wie im Leben als Mensch. Aber wir können sehr lange zusammen bleiben«, sagte er leise.
»Hey, wir wollten doch immer mal in den Süden fliegen«, sagte ich.
»Ja, das wollten wir.«
»Was hält uns davon ab?«
»Eigentlich nichts.«
Mit lautem Geschrei hoben wir ab, stiegen in den Himmel und drehten nach Süden. Neben meinem Schnuckel herzufliegen war einfach herrlich. Er sah nicht mehr aus wie mein Sandro, aber das war mir egal.
Immer höher stiegen wir in den abendlichen Himmel. Ließen die Schlafbäume, in denen schon unsere Genossen saßen, unter uns, und nahmen Abschied von der Gegend.

Mit leichten Flügelschlägen ruderten wir der Wärme und dem Sommer entgegen.

Fehlerteufel – in eigener Sache

Immer wieder erreichen mich Emails, in denen Fehler in meinen Geschichten aufgezählt werden. Das betrifft hauptsächlich meine älteren Geschichten, die man hier lesen kann. Als ich diese schrieb, hatte ich noch keinen Betaleser und wurde so ins Netz gestellt.

Gute Nachricht, ich habe endlich jemand gefunden, der sich die Arbeit macht, sich durch den ganzen Geschichtenwald durchzukämpfen. Sie werden nach und nach mit den Beta gelesenen Geschichten ersetzt. Also nicht verzagen, es wird sich besser.

Liebe Grüße Pit

Fotostudio Plange – Teil 24 – Türkischer Honig

Tja, lieber Leser, ich weiß zwar immer noch nicht so genau, warum unsere Familiengeschichte ein derartiger Dauerbrenner geworden ist, den so viel an Sex und anderen Obszönitäten kommt ja in der Beschreibung unseres Lebens nicht vor. Aber vielleicht liegt auch gerade darin der Reiz, dass nicht gerade wild durch die Gegend gerammelt wird. Wer weiß? Weiterlesen

Ein neuer Anfang – Teil 11

37. Kaltes Wasser

Falco

Erschrocken schaute ich meine Mutter an.

„Ich wollte euch nur noch kurz Jonas‘ Sachen bringen, damit er sie morgen früh anziehen kann“, sagte sie grinsend und legte die frisch gewaschene Wäsche auf mein Sofa.

Danach wünschte sie uns beiden noch eine gute Nacht und verschwand Weiterlesen

Amoklauf – warum?

Die Medien sind voll davon, in vielen Schulen heute Morgen sicherlich Hauptthema. Keiner vermag zu sagen, wie man mit so etwas umgehen kann. Die ersten Bemerkungen über mehr Kontrolle an den Schule werden laut, wie es an vielen Schulen in Amerika schon Alltag ist.

Aber ist es richtig, eine Schule wie eine Festung auszubauen, Schüler zu kontrollieren? Viele werden durch die Mutmassungen und unseriösen Berichtserstattungen mancher Medien, die meinen durch ihre Effekthascherei um mehr Einschaltquoten zu bekommen, nur noch mehr verunsichert.

Letztendlich bleibt die Frage nach dem Warum übrig. Warum dieser Junge so eine schreckliche Tat begannen und fünfzehn Menschen mit in den Tod genommen hat. Sicher wird es Antworten geben, erdachte oder auch bewiesene.

Auch sicher Mutmassungen, wie man solch eine Tat hätte verhindern können. Ob unsere schnelllebige Zeit daran schuld ist, in der Kommunikation unter den Menschen, den Stellenwert verloren hat, den sie einmal inne hatte, kann ich nicht sagen.

Für mich persönlich zeigt es nur, wie wichtig es ist zu reden und auch zu zuhören. Das „Aufeinanderzugehen“ wieder zu lernen und gemeinsam Dinge in Angriff zu nehmen. Probleme alleine meistern zu wollen ist auf alle Fälle keine Lösung. Man sieht was dabei heraus kommen kann…

Pitstories ist mit den Gedanken bei den Familien, Freunden und all denen, die um die aus dem Leben gerissenen Menschen trauern.

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt – Teil 2

Johnson City, 18.Juni 2007

Nun schlägt sich Julian bereits seit 2 Monaten mit der Frage rum wie er Keenan ins Vertrauen ziehen sollte, das war gar nicht so einfach wie er sich das vorgestellt hat. Jade, seine Cousine, hatte ihn vor wenigen Wochen auf den Kopf zu gefragt, sie meinte sie hätte gespürt das er bereit gewesen wäre und da wollte sie ihren Verdacht nicht länger zurück halten. Sie arbeitet in seinem Lieblingscafé als Bedienung solange Weiterlesen

Nachtschatten – Teil 6 – Inquisition

Constantin

»Constantin Varadin, das Richtertriumvirat hat Dich mit zwei zu einer Stimme schuldig des Mordes an Vladimir Breskoff befunden. Das Urteil lautet auf endgültige Entkörperung. Die Strafe wird sofort vollstreckt. Wie lauten deine letzten Worte?«

Das war es, worauf ich gewartet hatte. Weiterlesen

Fotostudio Plange – Teil 23 – Tippfehler

Tja, lieber Leser, das neue Jahr hatte begonnen, ein Jahr, das viele Änderungen mit sich bringen würde. Einige Änderungen standen ja schon fest, andere Wechsel bahnten sich an und da gab es immer noch die unvorhersehbaren Imponderabilien, die das Leben so mit sich brachte. Weiterlesen

Vater und Sohn

Hatte ich alles? Noch einmal zog ich meine Tasche mit dem Laptop auf den Schoss und durchwühlte die diversen Kleinfächer. Alles war vorhanden. Leicht verärgert schaute ich aus dem Fenster.

Eigentlich konnte ich froh sein, dass es eine Filiale meiner Firma in der Nähe meines Vaters gab, denn jetzt auch noch einen neuen Job zu suchen – nein danke! Der Flugbegleiter stand nun vorne und erklärte mit seinen üblichen Ausführungen, was man in einem Notfall zu tun hatte.

Ich hörte schon gar nicht mehr hin, es war mir im Augenblick eh egal. Für was brauchte ich eine Schwimmweste, wir flogen über Deutschland, da hatte es nicht soviel Wasser. Meine Probleme lagen ganz woanders. Dass ich irgendwann wieder ins Badische ziehen würde, war ja von Anfang an klar, aber dass es doch so schnell gehen sollte…

Jede einzelne Sekunde an dem Abend, als mich meine Schwester angerufen hatte, war mir in Erinnerung geblieben. Der Schock saß immer noch tief, obwohl das Gespräch nun schon drei Wochen zurück lag.

Die Polizei hatte meinen Vater nur im Schlafanzug total verwirrt auf dem Bahnhof aufgegriffen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie meine Schwester Tess erreicht hatten, die ihn dann abholen durfte.

Der Arzt diagnostizierte eine schwere Diabetes. Keiner zuvor hatte es bemerkt. Doch Tess arbeitete bei ihrem Mann in der Firma mit, hatte die Zwillinge zu versorgen, da hatte sie verständlicherweise auch keine Zeit, sich noch um Vater zu kümmern.

So blieb diese unheilvolle Aufgabe an mir hängen. Zu mir wollte ich ihn nicht holen, hier kannte er niemanden, vor allem kannte er sich nicht aus. So hatte ich mich von Tess überreden lassen, doch wieder in heimische Gefilde zu ziehen.

Am Vibrieren des Sitzes stellte ich fest, dass sich die Maschine in Bewegung gesetzt haben musste. Ich lehnte meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Meine Gedanken waren ein einziges Chaos.

Ich dachte zurück… eine Woche. Da hatte ich ihn kennen gelernt. Ein Gentleman auf ganzer Linie. Robert war Engländer, wohnte aber schon mindestens zehn Jahre hier. Ich hatte ihn auf einem Geschäftsessen kennen gelernt und wir hatten uns auf Anhieb sehr gut verstanden.

Fünf Abende hintereinander hatten wir uns getroffen, bis mir bewusst wurde, dass es keinen Sinn hatte. Wieso sollte ich etwas aufbauen, wenn ich sowieso hier wegzog. Am sechsten Tag sagte ich die Verabredung ab und löschte Roberts Nummer aus meinem Handy.

Ich nahm das gesamte Wochenende, um zu packen, ging kein einziges Mal ans Telefon. Und nun saß ich alleine im Flieger. Meine Möbel, mein ganzes Hab und Gut war mit dem Lkw unterwegs.

Das Flugzeug hob ab. In zwei Stunden würde ich zu Hause sein, Tess wollte mich vom Flughafen abholen.

So versuchte ich, mir die letzten zwei Stunden meiner Freiheit in Ruhe zu Gemüte zu führen. Doch daran war nicht zu denken. Die ältere Frau eine Reihe hinter mir erzählte jemandem von ihrem Enkel, wie stolz sie doch auf ihn wäre.

Also konnte ich nur ruhen und erfuhr so jede Einzelheit über diesen Enkel. Irgendwann musste mich dann doch der Schlaf übermannt haben, denn ich wurde mit einem Rütteln am Arm geweckt.

„Könnten Sie bitte den Sitz aufrecht stellen und sich anschnallen, wir landen in wenigen Minuten.“

Die nette Flugbegleiterin lächelte mich an und lief zur nächsten Reihe. Ich brachte mich wieder in eine aufrechte Position und legte den Gurt an. Ein kurzer Blick nach draußen zeigte mir, dass es hier genauso regnete wie schon vorhin beim Abflug.

Euro Airport – der Flughafen der Region. Eigentlich praktisch, einen Flughafen für drei Länder gleichzeitig zu bauen. Mulhouse in Frankreich, Basel in der Schweiz und Freiburg in unserem Ländle.

Ich musste lächeln. Eigentlich hatte ich mir angewöhnt, hochdeutsch zu sprechen, aber kaum war ich hier, spukte mir der Dialekt im Kopf herum. Die Maschine war mittlerweile gelandet und rollte zum Terminal.

Wie lange ich hier schon nicht mehr gewesen war. Recht flott verließ ich die Maschine und nach endlosen Schleusen stand ich endlich in der großen Halle. Nur, wo war meine Schwester?

„Onkel Patrick“, hörte ich plötzlich jemanden schreien.

Jemanden? Es handelte sich um zwei fast identisch wirkende Persönchen namens Jennifer und Marcel. Und meine getreue Schwester hintendrein.

„Hallo Frau Egner, wie machen Sie das? Sie sehen immer besser aus!“, begrüßte ich lächelnd mein Schwesterherzchen.

„Du bist ein alter Schmeichler, wie eh und je“, bekam ich als Antwort.

„Onkel Patrick…, Onkel Patrick“, klang es aus Bodennähe zu mir herauf.

Ich ging also schweren Herzens in die Hocke und wurde sogleich von zwei kleinen Rackern bestürmt und umarmt. Die obligatorischen Kussattacken fehlten natürlich auch nicht. Meine Schwester hatte dann doch Erbarmen mit mir und entzog mir die zwei kuschelwütigen Monster.

„Danke“, meinte ich und richtete mich mit einem kleinen Stöhnen wieder auf.

„Was hören da meine Ohren, wird mein kleiner Bruder alt?“

„Liebste Tess, sitz du zwei Stunden auf einem zu kleinen Sitz im Flugzeug und versuche zu schlafen. Und ich erinnere dich daran, dein kleiner Bruder ist mindestens fünfzehn Zentimeter größer als du!“

Sie setzte wieder ihr typisches freches Grinsen auf. Es gab eben Dinge, die veränderten sich nie. Wir fielen uns in die Arme.

„Danke, dass du gekommen bist“, sagte Tess leise.

„Was macht der Alte?“, fragte ich Tonlos.

„Seit er die Medikamente bekommt, benimmt er sich ganz normal. Na ja, eben das, was man so als normal bezeichnen kann.“

„Es hat sich also nichts geändert… noch immer jähzornig, rechthaberisch und streitsüchtig.“

„Du tust ihm Unrecht! Er ist viel ruhiger und gelassener geworden.“

Ich schaute sie mit großen Augen an. Jahrelang hatte mich mein Vater wegen jeder Kleinigkeit verprügelt. Er hatte mich gebrochen… mit voller Wucht und da sollte ich glauben, er habe sich gebessert?

„Ja, ich weiß, was du denkst“, sprach Tess weiter.

Eine kleine Hand nahm die meinige und zog daran. Ich schaute hinunter und sah in Marcels Augen.

„Ich wusste nicht, dass du unter die Hellseher gegangen bist, liebe Schwester. Und ich sage dir auch gleich, ich mache dies hier auch nur allein wegen dir!“, erwiderte ich und mein Blick wanderte wieder zu Tess.

„Das weiß ich auch sehr zu schätzen. Aber komm jetzt, zu Hause wartet unser Essen auf uns.“

„Auch etwas, worauf ich mich tatsächlich freue… die badische Küche.“

Ich gab Marcels Ziehen nach und wir liefen in Richtung Ausgang.

„Junger Mann, würdest du bitte meinen Arm dran lassen“, sagte ich zu Marcel, der immer noch kräftig zog.

Der quittierte diesen Satz mit einem lauten Lachen und einem unverständlichen Gemurmel.

„Er hat ständig nach dir gefragt“, sagte Tess leise neben mir.

„Marcel?“, schaute ich sie fragend an.

„Nein… ich meine Vater. Du hättest mal anrufen können.“

„Schwesterherz, ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, dass man in beide Richtungen telefonieren kann und er hatte meine Nummer.“

„Wollte dir das ja auch nur erzählen.“

„Sorry, ich bin nicht so gut drauf. Die Woche hatte ich viel Stress und dann der Umzug.“

„Schon gut.“

„Wo stehst du?“

„Drüben auf dem Parkplatz. Da du ja fast kein Gepäck bei dir hast, dachte ich, ich muss auch nicht so dicht am Eingang parken.“

Ich lächelte sie an. Mich wunderte, dass die beiden Kleinen so ruhig waren und keinen Ton sagten. Ich hatte sie als Quell jeglicher Wortwahl in Erinnerung. Jetzt waren sie nur am Kichern.

Still liefen wir über den Parkplatz, bis die beiden Kleinen losstürmten und vor einem schwarzen Touareg stehen blieben. Schwesterherz hob die Hand und bediente ihren Schlüssel. Die Blinklichter leuchteten kurz auf und schon hatten die Zwillinge die Autotüren offen.

Belustigt schaute ich zu, wie sie mühsam ins Wageninnere kletterten.

„Ganz schön fit deine zwei Racker“, meinte ich.

„Ja sind sie und ich würde sie nie hergeben wollen. Sind meine zwei kleinen Sonnenscheine.“

„Es gab Zeiten, da war dein kleiner Bruder dein Sonnenschein“, rutschte mir so heraus, wieder in der Vergangenheit hängend.

„Bist du ja auch immer noch“, meinte sie und hängte sich lächelnd an meinen Arm.

Wir erreichten das Auto und ich bestaunte erstmal dieses Prachtstück voll Kraft.

„Scheint gut zu laufen euer Geschäft, wenn man sich so ein Auto leisten kann.“

„Wir können uns nicht beklagen, an Arbeit fehlt es uns nicht.“

Mir kam der große Streit in den Sinn, dieses sinnlose Unterfangen Vater klar zu machen, dass ich nicht Schreiner lernen wollte, um den elterlichen Betrieb weiter führen zu können. Wie immer hatte meine große Schwester eine Bresche für mich geschlagen und hatte, sehr zu meinem Erstaunen, den damaligen Gesellen geheiratet.

So war der Fortbestand der Firma gesichert, auch wenn klar war, dass Tess mit ihrem Alphamännchen das Sagen hatte. Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, was sie damals an diesem Machotypen gefunden hatte.

Gut, ich musste zugeben, dass Ralf auch absolut nicht mein Typ gewesen war, für mich nicht gerade eine Schönheit und dann eben dieses Machogehabe. Die blöden Sprüche über Frauen waren nicht mein Ding. Aber er schien sich gebessert zu haben, wie mir Tess immer wieder am Telefon berichtete.

Langsam zog der Touareg vom Parkplatz. In Gedanken versunken war ich eingestiegen und hatte nicht einmal bemerkt, wie meine Schwester losgefahren war. Die Zwillinge spielten mit irgendwelchen Figuren auf der Rückbank, waren also beschäftigt.

Irgendeine Musik kam über den Äther, aber verstehen konnte ich nichts. Zu laut war das Powerduo im hinteren Teil des Wagens.

„Jennifer, hör auf deinen Bruder an den Haaren zu ziehen!“, erschallte plötzlich die Stimme meiner Schwester neben mir.

Ich fuhr regelrecht zusammen und schaute nach hinten.

„Aber er piekt mir immer in den Bauch, Mama der soll auch aufhören“, kam es mit glockenheller Stimme von Jennifer.

„Junior, könntest du deine Schwester in Ruhe lassen!“, sagte Tess nun etwas schärfer.

„Ja Mama“, meinte Marcel und streckte seiner Schwester die Zunge heraus.

Ich drehte mich lächelnd wieder nach vorne und schaute, ob ich etwas wiedererkennen konnte. Schließlich war ich jetzt über ein Jahr nicht mehr hier gewesen. Der Job hatte viel Arbeit mit sich gebracht.

So war ich mehr in der Welt unterwegs gewesen, als zu Hause. Nun sollte hier wieder mein zu Hause sein.

„Du bist so still“, hörte ich Tess neben mir sagen.

Ich schaute in ihre Richtung.

„Mich geht es ja nichts an, aber gibt es da jemanden, den du irgendwann mal vorstellen möchtest?“, fragte sie.

„Nein!“

„Keine Liebe in Sicht?“

„Schwesterchen, Liebe ist Luxus und den kann ich mir nicht leisten.“

„Deine Worte hören sich so verbittert an.“

„Wundert dich das?“

Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Mittlerweile überquerten wir den Rhein und ich konnte schon das blaue Schild >Bundesrepublik Deutschland< erkennen.

„Ralf hat sich erlaubt, im Haus einiges renovieren zu lassen. Ich hoffe, es gefällt dir.“

„Sicher wird mir es gefallen.“

„Und er hat es fertig gebracht, dir einen separaten Eingang zu schaffen, du musst also nicht immer an Vater vorbei.“

Ich nickte ohne Kommentar, auch wenn die Information meiner Schwester eigentlich eine positive Mitteilung war.

„Dein Firmenwagen wurde auch schon geliefert. Er steht voll getankt in seiner Garage“, erzählte sie weiter.

„Firmenwagen?“, fragte ich verwundert.

„Ja, der Bringer meinte, der sei für dich, reichte mir Schlüssel und Papiere und verschwand wieder.“

Davon hatte mir der Alte gar nichts erzählt. Gut, ich wusste nur, dass ich die Filiale übernehmen und wieder auf Vordermann bringen sollte. Was alles daran hing, war mir nicht klar.

„Weißt du, wo die Filiale ist, in der ich anfangen werde?“, fragte ich.

„Ich weiß nur, dass sie sich in Freiburg befindet, dort war ich noch nie. Na ja, vielleicht daran vorbei gelaufen, aber wusste ja nicht mal, dass es zu der Firma gehört, für die du arbeitest.“

„Ach so.“

„Ist alles in Ordnung mit dir Patrick?“, fragte Tess mit besorgtem Ton.

Ich schaute sie lange an, während sie sich auf den Verkehr konzentrierte. Dann wanderte mein Blick nach vorne und ich sah mir wieder die Gegend an.

„Tut mir leid, Tess. Bin im Augenblick kein guter Gesprächpartner… habe zuviel im Kopf.“

„Bereust du deinen Entschluss, wieder hier her zu kommen?“

„Das kann ich dir nicht einmal sagen. Warte ein paar Wochen, dann kann ich dir eine bessere Auskunft darüber geben.“

Mir tat die Antwort jetzt schon leid, als ich Tess‘ enttäuschten Blick sah. Aber was konnte ich ihr anderes sagen? Einige Zeit hier und ich konnte wirklich sagen, ob mir das Landleben wieder gefallen würde. Oder ob es mich wieder in die Großstadt zurückzog.

Normalerweise müsste meine Laune so langsam Tiefstniveau erreicht haben, doch dieses fröhliche Kindergelächter hinter meinem Rücken übertrug sich auf mein Gemüt. Immer öfter schaute ich nach hinten und bekam sogar ein Lächeln hin.

„Wie geht Ralf eigentlich mit dem Ganzen um?“, fragte ich Tess.

Sichtlich verwundert warf sie kurz einen Blick zu mir.

„Wie meinst du das?“

„Wie Ralf damit fertig wird, dass Vater jetzt so ist, wie er ist. Oder willst du mir erzählen, dass die beiden ein Herz und eine Seele sind?“

„Das sicherlich nicht und Ralf bemüht sich auch nicht, diesen Zustand zu ändern. Er geht ihm sogar regelrecht aus dem Weg.“

„Hat Vater auch bei ihm seine sogenannte Morallatte angesetzt und ihn niedergemacht?“

„Kann ich dir nicht sagen, ich war nie dabei, wenn die zwei sich in die Haare bekommen hatten.“

„Mama, geht es noch lange?“, rief Marcel von hinten.

„Schatz, du weißt doch, wie lange wir zum Flughafen gefahren sind und so lange brauchen wir auch wieder zurück.“

Damit gab sich Marcel wohl zufrieden, denn er quengelte nicht mehr weiter. Tess setzte den Blinker und der Motor heulte auf, als sie einen Gang zurück schaltete. Langsam fuhr sie die Auffahrt hoch.

Der Touareg brummte bis zur Ampel, an der Tess wegen dem roten Signal halten musste. „Sankt Georgen“ las ich auf dem rechten Schild. Die Ampel schaltete auf grün und Tess ließ den Turbo kräftig aufheulen, um zügig auf die Bundesstraße zu ziehen.

Es war zu meiner Verwunderung nicht viel Verkehr, da doch Freitagabend immer sehr viel Feierabendverkehr herrschte. Tess beschleunigte und war schnell wieder auf dem Tempolimit. Man merkte, dass ihr das Fahren sichtlich Spaß machte.

Nach wenigen Kilometern kam dann das Ortsschild zum Vorschein, Sankt Georgen. Wieder zu Hause. Noch einmal atmete ich tief durch, was Tess‘ Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Ich zuckte mit den Schultern und hob kurz die Augenbrauen an, was sie mit einem kleinen Lächeln kommentierte.

„Mama, darf ich im Hof Fahrrad fahren?“, fragte Jennifer.

„Wenn du Marcel nicht wieder über den Haufen fährst, ja“, antwortete seine Mutter gelassen.

„Marcel ist doof, der fährt mir ja immer extra ins Rad!“

„Stimmt gar nicht!“

„Doch tust du…!“

„Kinder, es reicht, sonst könnt ihr gleich in eure Zimmer wandern!“, warf Tess ein und augenblicklich war Ruhe.

Ich konnte nicht anders und grinste. Sie hatte die beiden Schreimäuler wohl gut im Griff. Tess verließ nun auch die Bundesstraße und fuhr die Abfahrt zur Basler Landstraße hinunter. Erinnerungen an früher kamen hoch, wie ich hier als Führerscheinneuling herum gegondelt war.

Als wir an dem einem Betonpfeiler vorbei kamen, musste ich schmunzeln. Hier hatte ich bei Glatteis, Vaters Auto meine erste Delle verpasst. Es sollten noch viele folgen. Verändert hatte sich hier nichts, alles sah noch genauso aus wie damals, als ich vor sieben Jahren hier weggegangen bin.

Auch nach einem Jahr Abstinenz, meinem letzten Besuch hier, fühlte ich mich gleich wieder zu Hause und es schien, dass auch dieselben Leute auf der Straße herum hingen. An einige Gesichter konnte ich mich noch gut erinnern.

Ich wusste nur nicht, ob sie sich auch an mich erinnerten, denn so gesehen, war ich hier im Ort kein unbeschriebenes Blatt, sehr zum Unwillen meines Vaters. Tess bog in die Blumenstraße ein, musste einem Fahrradfahrer ausweichen und setzte dann ihre Fahrt fort. Noch zwei Straßenzüge und sie bog ins Pfädle ein. Oh, es hatte neue Gehwege gegeben, es sah alles so gepflegt aus.

Meine Schwester durchfuhr nun das Tor der Firma und ließ den Wagen ausrollen. Hier sah ich auch den Transporter, dem ich gestern mein Hab und Gut anvertraut hatte. Und ich sah noch jemanden. Vater.

Er schien wohl die Leute der Umzugfirma zu überwachen. Ich atmete noch einmal tief durch und schnallte mich ab. Die Geräuschbrigarde hinter mir hatte bereits den Wagen verlassen und stürmte zur Fabrikhalle. Was natürlich die Aufmerksamkeit meines Vaters auf uns zog.

Lächelnd kam er auf den Wagen zu gelaufen. Ein kurzer Blick zu Tess und ich stieg ebenfalls aus.

Vater sah alt aus. Seine grauen Haare lagen wirr in alle Richtungen, als hätte diese eine Windböe durchforstet. Etwas unrasiert und eine Hand am Stock, humpelte er auf mich zu.

„Hallo Herr Sohn, wie war der Flug?“, fragte mich Vater und streckte seine Hand aus.

Ich schüttelte sie.

„Kurz und gut“, antwortete ich.

„Also deine Möbel sind schon fast alle im Haus. Du, die haben da einen Plan, wo sie alles hinstellen sollen, also ich finde…“

„Könnt ihr da später drüber reden?“, fiel Tess ihrem Vater ins Wort, „Jennifer und Marcel sollten dringend etwas essen.“

Eine Mutter hatte gesprochen und ich musste lächeln, weil sie damit schon zu Beginn meinem Vater den Wind aus den Segeln genommen hatte.

„Ist Ralf in der Halle?“, fragte Tess.

„Ja, vorhin war er noch dort“, kam es etwas beleidigt von Vater.

„Gut, dann gehe ich den mal holen.“

„Kann ich doch machen, muss mir eh noch etwas die Beine vertreten“, warf ich ein und Tess nickte mir lächelnd zu.

Also ließ ich die beiden stehen und lief auf die Halle zu, in der vorhin die Zwillinge entschwunden waren. Je näher ich kam, umso deutlicher vernahm ich den widerlichen Ton einer Säge.

Das Geräusch verstärkte sich, als ich die Halle durch die in dem Tor integrierte Tür betrat. Zuerst fielen mir die Neuanordnungen der Maschinen auf. Marcel stand bei einem Arbeiter auf dem Stuhl und tat ganz interessiert.

Von Jennifer war keine Spur zu sehen.

„Patrick!“, hörte ich es plötzlich rufen.

Ich drehte mich in die Richtung, aus der mein Name erklungen war. Ralf.

„Der verlorene Sohn ist endlich heim gekehrt!“, scherzte er.

„Auf Drängen deiner Frau wohl bemerkt… hallo Ralf.“

Anstatt, wie typisch bei Ralf meine Hand wild zu schütteln, zog er mich an sich und umarmte mich fest. War das der Ralf, den ich kannte?

„Worüber ich auch sehr froh bin. Tess ist mit eurem Vater deutlich überlastet. Seine Eskapaden halten uns ganz schön auf Trab.“

Ralf ließ mich los und musterte mich.

„Gut schaust aus!“

„Danke.“

Wer war der Mensch in Ralfs Hülle. So kannte ich ihn wirklich nicht.

„Ähm Tess meinte, du und die Kinder sollten zum Essen kommen.“

Er schaute kurz auf die Uhr und nickte.

„Marcel… Jennifer… ESSEN“, halte es durch Ralfs kräftiger Bassstimme in der Halle.

Wenige Sekunden später standen zwei mit Sägespänen übersäten Kids da, die ihren Vater erwartungsvoll anschauten.

„Na super, wenn euch eure Mama so sieht, hab ich wieder Ärger am Hals“, meinte Ralf und hob seinen Sohn hoch.

Der gluckste vor Lachen, als wüsste er schon, was jetzt kommt.

„Manchmal glaub ich echt, ihr macht das extra, um euren Vater zu ärgern“, sprach Ralf weiter.

Fragend beobachtete ich, wie er Marcel zu einer anderen Maschine trug und ihn dort auf der Arbeitsfläche abstellte. Dann nahm Ralf so etwas wie einer Luftdruckpistole, verbunden mit einem Schlauch, in die Hand.

„Augen… und Mund zu“, sagte Ralf.

Ich fuhr zusammen, als Ralf die Pistole in Gang setzte und ein zischendes Geräusch entstand. Die Holzspäne auf Marcels Klamotten flogen im hohen Bogen durch die Luft. Wenige Augenblicke später folgte die gleiche Prozedur mit Jennifer, auch sie lachte herzhaft.

„So ihr Racker, ab zu eurer Mama, die wartet schon“, meinte Ralf und zwinkerte mir zu.

Er schob die Kids vor sich her und als er in meiner Höhe war, legte er den Arm um meine Schulter und zog mich mit sich aus der Halle. Irgendwie war ich jetzt total verwirrt. War das wirklich Ralf neben mir?

„Was ist? Du schaust so nachdenklich.“

„Das wundert dich?“, fragte ich erstaunt.

„Na ja… ich war… hm… unser Abschied war nicht gerade rühmlich.“

„Nein, weiß Gott nicht. Mir tat der Kiefer noch ein paar Tage lang weh.“

Ralf ließ mich los und blieb stehen.

„Du hast mich auch bis aufs Blut gereizt!“

„Wir waren wohl beide nicht ganz unschuldig…“, sagte ich leise und senkte den Kopf.

„He das ist Geschichte…“, meinte Ralf und stupste mich an.

„Und woher dein Sinneswandel? Ich meine du hast mich früher nie so begrüßt, geschweige denn deinen Arm um mich gelegt.“

„Ach Patrick… vergiss einfach das Früher, ich bin wie ich bin. Und ich bin froh, dass du wieder da bist!“

Aus diesem Mann sollte einer schlau werden.

*-*-*

Ich wusste gar nicht mehr, wie gut heimisches Essen schmeckte. Auf jeden Fall hatte ich zuviel gesessen. Mit einer Schüssel weniger Kartoffelreste in der Hand lief ich zu Tess in die Küche, die bereits mit dem Aufräumen begonnen hatte.

„Findest du nicht auch, dass Vater ungewöhnlich ruhig beim Essen war?“, fragte mich Tess, ohne sich umzudrehen.

Woher wusste die Frau, dass ich die Küche betrat?

„Und wenn du dich fragst, warum ich weiß, dass du in die Küche kommst… der Rest der Familie meidet dieses Zimmer.“

Ich musste lächeln und stellte die Schüssel neben Tess auf der Spüle ab. Anschließend gab ich meiner Schwester einen Kuss auf die Wange.

„Danke für das tolle Essen. Was Vater betrifft, ist es mir selbst ein Rätsel. Völlig ungewohnt, dass er nicht stichelt.“

„Ist dir also auch aufgefallen.“

Ich nickte und nahm mir ein Geschirrspülhandtuch, um zu helfen.

„Das brauchst du doch nicht machen, deine Wohnung ist sicher wichtiger.“

„Dazu habe ich jetzt keine Lust und zudem ist es schon viel zu lange her, dass ich so ungestört mit meiner großen Schwester reden konnte.“

Nun schaute sie auf und lächelte mich an.

„Dein Wort in Gottes Gehörgang. Stimmt, ist selten, dass ich alleine anzutreffen bin. Und was möchtest du so überaus Wichtiges mit deiner großen Schwester bereden?“, sprach Tess und legte den frisch gespülten Topf auf die Abtropfe.

„Ralf!“

„Ralf?“

„Ja, wann hast du ihn ausgetauscht?“

„HÄ?“

„Verrat mir, was hast du mit Ralf angestellt, dass er sich plötzlich so verändert hat?“

„Ralf? Der hat sich doch kein bisschen verändert.“

„Da muss ich dir leider wieder sprechen. Der Mann, der mich vorhin in der Werkstatt so liebevoll umarmt hat, ist bestimmt nicht Ralf.“

„So hat er das?“

„Ja hat er!“

Tess begann zu kichern und zog den Stöpsel aus dem Waschbecken.

„Nun sag schon, was hast du gemacht, dass dein Herzblatt so einen Sinneswandel vollzogen hat. Seine Verabschiedung beim letzten Mal habe ich noch einige Tage lang gespürt.“

„Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Und du willst wissen, welche Tricks ich angewandt habe, um meinen Mann zum Umdenken zu ermuntern. Nichts! Ein paar Tage Schweigen, nachdem er dich geschlagen hatte und du Hals über Kopf abgereist bist.“

„Und das hat etwas gebracht?“

„Das Ergebnis siehst du doch. Er kam nach ein paar Tagen regelrecht angekrochen, sogar mit einem Strauß roter Rosen.“

„Das macht ein Mann normalerweise nur, wenn er einen betrogen hat“, grinste ich.

„Du brauchst aber nicht denken, ich hätte es ihm sonderlich leicht gemacht. Ich ließ ihn ein ganze Woche zappeln.“

„Schwesterherz, ich wusste gar nicht, dass so eine finstere Ader in dir existiert“, meinte ich gespielt empört.

„Ja du kennst viele Seiten deiner Schwester noch nicht, aber in dieser reinen Männerwelt in unserem Betrieb, muss ich mich dort schon irgendwie durchsetzen.“

„Du bist eine Powerfrau, wer das nicht bemerkt, der gehört eh nicht in deine Nähe.“

„Sag das mal unserem Herrn Vater.“

„Und so schließt sich der Gedankenkreis wieder“, sagte ich.

*-*-*

Gedankenverloren stand ich nun in meinem neuen alten Domizil. Erinnerungen kamen auf, wurden aber sogleich im Keim erstickt. Ralf hatte sich wirklich Mühe gegeben mit den Renovierungsarbeiten.

Er hatte mir die Pläne zukommen lassen, damit ich schon vorab hatte planen können, wo ich meine Möbel unterbringen würde. Schon allein das hatte mich verwundert, dass Ralf sich solche Mühen wegen mir gemacht hatte.

Aber jetzt wo ich meine Möbel in diesen Räumlichkeiten sah, beeindruckte es mich noch mehr, was er sich alles hatte einfallen lassen. Besonders gut gefiel mir die Theke, die Küche und Wohnzimmer voneinander trennte.

Mein Blick fiel auf die vielen Kartons, die sich noch im Flur stapelten. Ich seufzte laut. Ich würde nicht drum herum kommen, ich musste mich langsam ans Auspacken machen. Es half nichts. Schweren Herzens begab ich mich zum ersten Karton und öffnete ihn.

Zwei Stunden später und um viele leere Kartons reicher, ließ ich mich aufs Sofa fallen. Morgen sollte ich mir vielleicht noch Plätze überlegen, wo ich meine Bilder überall aufhängen konnte.

Es klopfte.

„Ja? Die Tür ist offen…“

Ich hörte, wie jemand die Wohnungstür aufzog und danach Schritte, die sich mir näherten.

„Oh, da warst du ja richtig fleißig.“

Vater!

„Ja irgendwann muss ich ja fertig werden, nächste Woche muss ich wieder arbeiten.“

Ich hob meinen Blick und sah Vater näher an. Alt war er geworden. Er sah so… ungepflegt aus, unrasiert, die Haare wirr auf dem Kopf. Der alte Trainingsanzug tat sein Übriges.

„Und was arbeitest du dann?“

Mir fiel Tess‘ Bemerkung ein, dass er schnell vergaß, was man ihm erzählte.

„Ich fange bei einer Computerfirma an“, sagte ich und entschied mich dazu, das nicht weiter zu erläutern.

„Damit kann man Geld verdienen?“, fragte er und schaute sich unschlüssig im Wohnzimmer um.

Ich erhob mich und öffnete den nächsten Karton. Dieser war voller Bilder… Erinnerungen an früher. Schnell hatte ich die Klappen wieder verschlossen. Vor Vater wollte ich nun wirklich nicht rührselig werden.

„Ja stell dir vor, damit kann man Geld verdienen, sogar sehr gut.“

„Und warum bist du dann zurück gekommen, hast du dort nicht gut verdient?“

Er wusste wirklich nicht, warum ich hier war. Vater lief durch das Wohnzimmer und schaute sich alles genau an.

„Weil ich hier ein Zweigstelle leiten werde, ich bin immer noch bei der gleichen Firma.“

„Warum hast du keine Frau, Patrick. Wenn du so gut verdienst und hier eine so große Wohnung hast … da fehlt eine Frau.“

Nicht wieder diese Diskussion. Er schien wirklich viel vergessen zu haben.

„Vater, hast du vergessen, dass ich schwul bin?“, fragte ich scheinheilig und öffnete den nächsten Karton.

Darauf kam keine Antwort. Stattdessen lief er weiter durch das große Wohnzimmer.

„Die Möbel sehen teuer aus“, sprach er plötzlich weiter.

„Das waren sie auch.“

„Du scheinst gut zu verdienen.“

Ich wollte etwas sagen, zog es aber vor nur auszuatmen. Mir schien dieses Gespräch genauso sinnlos wie schon viele Gespräche zuvor in der Vergangenheit.

„Und wo ist die Firma, in der du anfängst?“

„In Freiburg.“

„Mit dem neuen Wagen in der Garage bist du auch schnell dort.“

Also hatte er den auch schon genau unter die Lupe genommen.

„Das ist der Firmenwagen, der wurde mir bereit gestellt.“

„Und wo ist dein Auto?“

„Ich habe zurzeit keinen eigenen Wagen.“

„Du kannst gerne meinen benutzen, wenn du ihn brauchst.“

Ich schaute nachdenklich in seine Richtung und wartete immer noch, dass er mit seiner Stichelei anfing.

„Oh so spät schon, ich geh dann mal runter, denn ich möchte meine Mittagssendung nicht verpassen.“

Und schwups war er ohne weiteren Ton wieder draußen. Was war das jetzt? Gut, Tess hatte gesagt, dass er, seit er die Tabletten nahm, viel ruhiger geworden sei, aber das, was da eben vor mir gestanden hatte, war definitiv nicht mein Vater, so wie ich ihn von früher kannte.

*-*-*

Nach einem guten Abendessen bei Tess und einer langen Dusche ließ ich mich nur im Handtuch um die Hüften auf mein Sofa fallen. Mein Blick wanderte erneut durch das Wohnzimmer.

Je länger ich es betrachtete, umso mehr gefiel es mir. Auch diese himmlische Ruhe fiel mir auf. Während in der Stadt den ganzen Tag und auch in der Nacht der Autoverkehr fast unerträglich war, hörte man hier so gut wie nichts.

Es klingelte. Schien die Türglocke zu sein. Ich lief in den Flur und entdeckte neben der Wohnungstür einen Telefonhörer. Ich nahm ihn ab.

„Ja?“

„Patrick ist Vater bei dir?“, hörte ich Tess besorgte Stimme.

„Nein, warum fragst du? Warte, ich mach dir auf…“, und drückte den Öffner.

Nicht bewusst, fast im Adamskostüm da zu stehen, öffnete ich meiner Schwester die Wohnungstür. Sie kam schnellen Schrittes die Treppe herauf. Als sie mich erblickte, begann sie zu grinsen.

„Du hast dich gut gehalten“, meinte sie, bevor ihr Lächeln wieder verschwand, „ich war grad bei Vater in der Wohnung, mache ich eigentlich jeden Abend, aber er ist nicht da.“

„Ist das so sonderlich?“

„Ja, er verpasst sonst nie seine Nachrichten.“

„Moment, ich zieh mir etwas an.“

„Wäre ratsam, sonst bist du gleich das morgige Tagesgespräch. Der heimgekehrte Sohn rennt nur im Handtuch bekleidet auf der Straße herum.“

„Das wäre der bloße Neid, Schwesterchen. Nicht jeder verfügt über so einen durchtrainierten Körper.“

„Deine Eitelkeit hast du jedenfalls nicht verloren. Komm, spute dich, ich mach mir langsam Sorgen.“

„Weiß Ralf Bescheid?“, fragte ich, als ich ins Schlafzimmer lief.

„Nein, dem muss ich es noch beibringen. Super, damit ist der Abend wieder gelaufen.“

Ich zog mir schnell meinen Jogginganzug an, schlüpfte in meine Laufschuhe, bevor ich wieder zu meiner Schwester zurückkehrte.

„Wie meinst du das?“

„Ralf regt sich immer tierisch auf, wenn Vater verschwunden ist und keiner weiß, wo er sich herumtreibt.“

„Kam das schon öfter vor?“

„Erst zwei oder dreimal.“

„Darüber sollten wir nachher noch genauer sprechen. Also ich bin fertig… wir können?“

Ich schnappte mir meine Schlüssel und lief meiner Schwester hinterher.

„Wir laufen am Besten seine Wege ab, die er üblicherweise nimmt.“

„Ich hoffe, dass ich mich nicht verlaufe, war ja schon eine Weile nicht mehr hier.“

„Tust du sicher nicht.“

Ich schaute Tess kurz nach, wie sie noch mal in ihrem Haus verschwand. Währenddessen lief ich zur Straße hin und schaute in beide Richtungen. Natürlich war nichts zu sehen. Ich hörte eilige Schritte hinter mir.

„So Ralf weiß Bescheid, wir können los.“

„Und wohin als erstes?“

„Zum Friedhof…“

„Kein Ort, den ich im Dunkeln normalerweise besuchen würde.“

„Ich auch nicht, das kannst du mir ruhig glauben.“

Fast schweigend, liefen wir schnellen Schrittes zum Friedhof. Auch hier war ich lange nicht mehr gewesen. Irgendwie scheute ich mich davor, das Grab meiner Mutter zu besuchen. Zu viele missliche Erinnerungen kamen wieder hoch.

Vor dem Tor des Friedhof angekommen, zog Tess eine kleine Taschenlampe hervor.

„Was hast du vor? Willst du da rein gehen.“

„Nein, ich bleibe hier stehen und leuchte Grabsteine an… klar will ich da rein.“

„Ich will ja nichts sagen…“

Tess schaute mich an und ihr alt bekanntes fieses Grinsen kam wieder zum Vorschein.

„Hat mein Brüderchen etwa Schiss?“

„Also ich, äh… etwas unheimlich ist mir das schon, das gebe ich freiwillig zu.“

Meine Schwester lachte kurz auf.

„Dass ich so etwas erleben darf, dass du etwas zugibst. Nichts desto trotz, wir müssen da rein.“

„Wenn es denn sein muss.“

„Es muss.“

So folgte ich unsicher meiner kleinen großen Schwester durch das quietschende Tor. Hätte mich jetzt jemand von der Seite angesprochen, ich hätte in null Komma nichts die Hosen gestrichen voll gehabt.

Zielsicher lief Tess den Hauptweg entlang und ich hielt so gut ich konnte mit ihr Schritt. Plötzlich machte der Lichtkegel einen scharfen Knick nach Links. Nur schemenhaft konnte ich die Umrisse von Tess erkennen.

Warum kommt nie jemand auf die Idee, auf einem Friedhof Lampen anzubringen. Gab es so was nicht? Standen hier früher keine Laternen? Plötzlich stieß mein Fuß gegen etwas Hartes. Erschrocken kam ich ins Trudeln, fing mich aber kurz vor dem Hinfallen noch ab.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Tess und leuchtete mir mit der Taschenlampe direkt in die Augen.

Schützend hielt ich die Hand vors Gesicht.

„Ja, bin nur irgendwo hängen geblieben.“

„Über eine Leiche gestolpert?“, kicherte Tess.

„Ich weiß nicht, was daran witzig sein soll!“

Meine Schwester entgegnete nichts und drehte sich wieder um, was hieß, dass meine Augen dem hellen Strahl der Taschenlampe  nicht mehr ausgesetzt waren. So folgte ich nun weiter dem Schein der Lampe und irgendwie in meinen hintersten Gehirnzellen suchte ich nach Erinnerungen, ob der Weg zum Grab meiner Mutter schon immer so weit gewesen war.

Irgendwann blieb Tess einfach stehen und ich lief sie fast über den Haufen.

„Fehlanzeige, hier ist er nicht.“

Sie leuchtete die Umgebung aus und kurz konnte ich den Grabstein meiner Mutter sehen.

„Halt, darf ich mal?“, fragte ich und nahm Tess die Taschenlampe aus der Hand.

Ich hielt den Strahl auf den Grabstein und las die Inschrift, die ich eigentlich auswendig kannte.

„Du warst lange nicht mehr hier, stimmt’s?“

Ich schüttelte den Kopf, bis mir bewusst wurde, dass Tess das nicht sehen konnte.

„Nein…“

„Ich würde dir vorschlagen mal bei Tag hier her zugehen, aber alleine.“

Kommentarlos gab ich Tess die Taschenlampe zurück. Wir gingen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren und als wir das Tor durchschritten, atmete ich erstmal tief durch.

„Da seid ihr ja.“

„Ahhhhhhhhhhhhhh“, schrie ich und machte ein Satz zur Seite.

Tess fing neben mir an laut zu lachen.

„Was denn?“, fragte Ralf, der da eben noch nicht gestanden hatte, als wir den Friedhof verließen.

„Mein Gott, erschreck mich doch nicht so!“, rief ich und hielt meine Hand auf die Brust, um irgendwie meinen überhöhten Herzschlag zu beruhigen.

„Was… machst du überhaupt hier?“, wollte Tess neben mir wissen, die immer noch mit einer Lachattacke kämpfte.

„Ich habe Mutter angerufen, die passt nun auf die Kinder auf. Ich dachte, zu dritt finden wir ihn bestimmt schneller.“

„Gute Idee, ich weiß nicht, wie lange ich diesen Angsthasen neben mir noch alleine ertrage.“

„Nun hör mal“, protestierte ich laut, „nachts durch einen Friedhof zu laufen ist eben nicht jedermanns Sache und dann auch noch erschreckt zu werden… man ich hab mir fast in die Hose gemacht.“

Nun fing auch Ralf an zu lachen.

„Ja, ja, macht euch ruhig lustig über mich“, schmollte ich.

Ralf legte einen Arm um mich.

„Komm wir gehen weiter und keine Angst, ich beschütze dich.“

„Oh, du willst mit der Masche wohl den edlen Ritter spielen. Entschuldige, aber mit verheirateten Männer fang ich nichts an.“

Tess prustete neben mir los und Ralf entglitten die Gesichtszüge. Als Krönung streckte ich ihm noch die Zunge heraus und löste mich aus seiner Umarmung.

„Wir sollten weitersuchen“, ermahnte uns Tess, als sie sich etwas beruhigt hatte.

„Okay, wo jetzt hin?“, fragte ich.

„In den Park.“

„In den Park, ist das nicht ein gutes Stückchen zu laufen? Sollten wir nicht den Wagen nehmen?“, sagte ich verwundert.

„Nein, wir können nicht alle Wege fahren, die Vater immer nimmt.“

„Aha“, erwiderte ich und wir liefen zu dritt weiter.

„Wieso eigentlich?“, fragte Ralf neben mir plötzlich.

„Wieso was?“, stellte ich die Gegenfrage.

„Warum fängst du nichts mit Ehemännern an… bin ich so abstoßend?“

Tess fing erneut an zu kichern und ich schaute grinsend zu Ralf.

„Das sicher nicht lieber Ralf, aber ich schnappe meiner Schwester nicht den Mann weg.“

„Dazu hättest du auch gar keine Chance“, meinte Tess immer noch kichernd.

Ralf Gehirn schien auf Hochtouren zu arbeiten, seine Stirnfalten wurden immer größer.

„Und wie sollte dein Traummann aussehen?“, fragte er nun weiter.

Ich atmete tief durch. Die Frage aller Fragen.

„Es kommt mir nicht auf das Aussehen an, klar wenn einer gut aussieht, ist das vielleicht ein Bonus, aber mir ist der Mensch wichtiger. Ich möchte einen Mann haben, der ehrlich und offen ist, mir auch die Meinung sagt, wenn ich etwas falsch mache. Einfühlsam sollte er sein und Toleranz haben.“

„Da wird es doch sicher einen Menschen geben, der dem entspricht, oder gibt es da schon einen?“, fragte Ralf weiter.

Ich fragte mich still, warum Ralf so interessiert daran war.

„Es gab… da jemand, aber das habe ich… na ja egal.“

„Was hast du?“, fragte nun Tess.

Wieder atmete ich tief durch.

„Ich habe da jemanden kennen gelernt… Robert, ein Engländer. Sehr sympathisch…“

„Ja und weiter?“

„Nichts weiter, wir haben uns jeden Abend getroffen und ich habe dann die Sache nach einer Woche beendet.“

„Wieso das denn?“

Ich blieb abrupt stehen, die anderen folgten meinem Beispiel.

„Das war eine Woche, bevor ich hier her gezogen bin. Tess, was hat es für einen Sinn, einen Mann kennen lernen zu wollen, der nun 600 km von mir wegwohnt… Fernbeziehung? Nein danke!“

„Denkst du da nicht etwas egoistisch?“, kam es von Ralf.

„Wieso egoistisch?“

„Klar versteh ich… von einer Fernbeziehung würde ich mir auch nichts versprechen, aber ist es fair? … Diesem Robert gegenüber?“

„Ich versteh, was Ralf meint“, beteiligte sich nun Tess an dem Gespräch.

„Du hast diesem Robert die Entscheidung abgenommen, ob er dich weiterhin sehen will. War das nicht etwas vorschnell?“

Ich starrte auf den Boden.

„Das ist jetzt eh zu spät… seine Nummer ist gelöscht, wie sollte ich ihn noch erreichen?“

„Es ist alles möglich!“, sprach Tess und lief weiter.

*-*-*

Eine halbe Stunde später trafen wir am Park ein.

„Wir sollten uns trennen, denn ich weiß nicht auf welcher Bank er sitzt.“

„Na toll, müssen wir jetzt jede Bank in diesem Park abklappern?“, fragte ich und verdrehte die Augen.

„Nein, Vater hat nur zwei Lieblingsplätze hier im Park, deswegen der Vorschlag uns zu trennen.“

Ich nickte. Ralf lief den linken Weg und wir nahmen den rechten am Ufer des kleinen Sees entlang.

„Und hier findest du es nicht gruslig?“, fragte mich Tess grinsend.

„So lange keine Grabsteine am Wegesrand stehen, nicht!“

Sie hängte sich bei mir ein und so liefen wir fast wie ein Liebespaar am See entlang.

„Das hat mir vorhin gefallen, wie du mit Ralf umgegangen bist.“

„Wenn er mir so kommt…“

„Sein Gesicht war zum Kreischen, da hätte man ein Foto machen sollen.“

„Ja, für die Nachwelt und als Titel darunter – der Korb des Schwulen.“

Tess fing wieder laut an zu lachen, hob sich mit der Hand den Magen.

„Du…, wo wir grad wieder so vereint alleine sind. Das mit dem Alten gibt mir schon zu denken. Ich kann doch nicht die ganze Zeit über ihn wachen, dass er nicht einfach davon spaziert.“

„Da gebe ich dir Recht Bruderherz. Aber was sollen wir tun… ihn einschließen?“

Schlagartig fiel mir die Szene ein, wo der Alte mich windelweich gedroschen hatte. Er hatte mich danach in mein Zimmer gezerrt hatte und es von außen abgeschlossen.

„Wo bist du mit deinen Gedanken.“

„Nicht so wichtig.“

„Patrick ich habe das Gefühl, du frisst ganz schön was in dich hinein. Ich habe nie sehr viel mitbekommen, was Vater mit dir alles angestellt hat, es nur am Rande durch Mutter erzählt bekommen.“

„Ist vielleicht auch besser so, Tess.“

„Aber du schleppst das sein Jahren mit dir herum.“

„Was soll ich da groß erzählen? Wie er mich laufend verprügelt hat, weil ihm dies oder das nicht passte. In seinen Augen machte ich alles falsch – Nichtsnutz – Scheißhaufen… und das sind noch harmlose Worte, mit denen er mich tituliert hatte.“

„Es tut mir Leid, dass ich dir da nie zur Seite stehen konnte.“

„Wie denn auch? Am Ende hätte er dich auch noch verprügelt…“

„Meinst du?“

„Ich weiß es nicht. Meine Erinnerungen verschwimmen alle ineinander. Alles ist so kompakt und doch so ein Chaos.“

„Deswegen hast du vor sieben Jahren hier die Zelte abgebrochen und bist verschwunden?“

„Nein, da hat er die Hand nicht mehr gegen mich erhoben. Das letzte Mal, da war ich gerade siebzehn. Ich weiß nicht, ob du dich erinnern kannst. Wir hatten dieses komische Nachbarfest im Hof.“

„Nur ganz wenig, gebe ich zu.“

„Vater war wie immer voll gut drauf, stockbetrunken und laberte einen Witz nach dem anderen herunter. Die Leute lachten, fanden das toll! Und dazwischen machte er mich herunter, weil ich angeblich nicht fähig war, den Grill richtig zu bedienen.“

„Ich kann mich wirklich an nichts davon erinnern.“

„Warst du überhaupt da?“

Tess zuckte mit den Schultern.

„Auf alle Fälle war mir das vor den Nachbarn so peinlich, dass ich beschloss ins Haus zu gehen. Ich merkte nicht, dass er mir nach lief. Erst als ich im Hausflur stand, holte er mich ein, packte mich am Kragen und presste mich an die Wand.“

Tess sah mich traurig an.

„Ich war damals eigentlich darauf gefasst, dass er mir gleich ins Gesicht schlägt. Mein Hass auf ihn war so groß… und plötzlich fing er an zu kotzen was das Zeug hielt. Er ließ mich los und verschwand in der Toilette.“

„Er hat dich angekotzt?“, fragte Tess angewidert.

„… ja.“

„Und dann?“

„Ich lief hoch in mein Zimmer, entledigte mich der Klamotten, zog mich frisch an und verließ unbemerkt wieder das Haus.“

„War das da, wo du die ganze Nacht weg warst und niemand wusste, wo du bist?“

„Ja.“

„Und eine Woche Hausarrest…“

Wieder antwortete ich mit einem „Ja.“

„Oh, Patrick, ich glaube ich habe sehr viel nicht mitbekommen, das tut mir Leid.“

„Schwesterherz, das ist nun Vergangenheit, reden wir nicht mehr drüber.“

„Sollten wir aber, weil es mir so vorkommt, als hättest du das alles in dich hineingefressen.“

„Mag sein, aber ich möchte nicht immer darüber reden müssen… ähm… da vorne liegt einer auf der Bank…“

Tess lief nun etwas schneller.

„Papa…?“, rief sie.

Mein Gang wurde auch schneller und tatsächlich, je näher wir kamen, umso deutlicher konnte man erkennen, dass es unser Vater war. Aber er reagierte nicht. Tess war die erste, die bei ihm ankam.

„Papa?“, rief sie noch einmal, „mein Gott Patrick…, er wird doch nicht…“

Fast leblos schien er da zu liegen, reagierte nicht auf das Rufen. Ich wollte seinen Puls fühlen, spürte aber, dass sein Handgelenk ganz warm war. Auch konnte ich ihn leise atmen hören.

„Nein Tess, entweder er schläft tief und fest… oder ich weiß auch nicht. Ich glaube wir sollten einen Notarzt rufen.“

„Okay… Moment…“, meinte Tess und zog ihr Handy aus der Tasche.

*-*-*

„Den viel zu hohen Blutdruck ihres Vaters haben wir in den Griff bekommen, ihr Vater ist auch weitgehend stabil, aber ich möchte ihn trotzdem in die Klinik zur Beobachtung einweisen lassen.“

Der Notarzt verabschiedete sich von uns, während ich aus dem Augenwinkel heraus sah, wie Vater in den Krankenwagen gehoben wurde.

„Ich muss schnell heim ein paar Sachen von Vater zusammensuchen“, meinte Tess neben mir.

„Ganz ruhig Tess, das machen wir schon“, hörte ich Ralf sagen.

„Warum habe ich nicht besser aufgepasst…“

„Tess, hör auf, du trägst keine Schuld“, mischte ich mich nun ein.

„Patrick hat Recht, dein Vater ist immer noch im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte, wie der Arzt bestätigt hat und du bist schließlich nicht sein Anstandswauwau!“

Mit tat Tess so leid. Ich wusste nicht, ob ich ihr wirklich eine Hilfe sein würde, oder ihr eher zur Last fiel. Der Krankenwagen fuhr los und der Notarzt hinterher. Recht still liefen wir zurück zur Firma.

„Ich will dir ja nicht zu nahe treten Patrick, aber ich würde gern noch einmal auf das Thema zurückkommen“, brach Ralf plötzlich die Stille.

„Was meinst du?“, fragte ich verwundert.

„Nach deinem schnellen Abgang und meinem unrühmlichen Benehmen dir gegenüber hat mir Tess damals recht heftig den Kopf gewaschen und das auch ziemlich lange. Ich bin danach verstärkt im Internet gewesen… habe eine Seite gefunden, auf der Coming-Out-Geschichten veröffentlicht wurden. Ich wusste echt nicht, was da alles dran hängt…“

„Ja stimmt… leider.“

„Ich wollte mich einfach bei dir… noch mal entschuldigen. Es tut mir wirklich leid, dass ich mich so beschissen dir gegenüber benommen habe.“

„Hört, hört!“, kam es von Tess grinsend.

„Jetzt mach dich nicht noch über mich lustig, es fällt mir schwer genug.“

„Das weiß ich“, sprach ich nun weiter, „und ich danke dir dafür. Entschuldigung angenommen.“

Jetzt strahlte Ralf wieder und langsam verstand ich, was Tess an dem Mann so toll fand. Aber damit waren meine Probleme nicht kleiner geworden. Sehsüchtig dachte ich an Robert. Die beiden hatten Recht, ich hatte überstürzt gehandelt.

Ich zog mein Handy heraus und rief die Auskunft an.

„Was machst du?“, fragte Tess.

„Einen Fehler wieder gut machen.“

Die zwei sahen mich verwundert an.

„Patrick Hersching … guten Abend. Ich bräuchte eine Nummer in Frankfurt von einem Wohnkomplex mit Namen Garden Ship… nein, da gibt es einen Portier… ja… danke!“

Mir wurde die Nummer angesagt, danach wurde ich gleich verbunden. Es klingelte, während wir fast an der Firma angekommen waren.

„Garden Ship, guten Abend, Sie sprechen mit Allen Goodway. Was kann ich für Sie tun?“

„Patrick Hersching hier, guten Abend, wäre es möglich mich mit Robert Coldwell zu verbinden?“

„Einen Augenblick, ich werde es versuchen.“

Ich wurde in die Warteschleife gesteckt und eine langweilige Melodie spielte vor sich hin. Plötzlich klingelte es wieder.

„Robert Coldwell.“

Seine Stimme, der Klang seiner Stimme. Ein Schauder lief mir über den Rücken.

„Hallo?“, fragte er.

„Hallo Robert.“

Ralf und Tess grinsten sich eins weg.

„Patrick? Patrick, bist du das?“

„Ja…“

„My God Patrick, weißt du wie ich mir Sorgen um dich gemacht hab?“

„Das tut mir Leid, Robert.“

„Ich habe bei dir in der Firma gecallt und die wollten mir keine Information geben… nur dass du eine work in Southgermany übernommen hast.“

„Ja, ich leite hier eine Filiale ab nächster Woche.“

„Patrick, warum hast du nicht mit mir… gesprochen?“

Mittlerweile bogen wir durch die Einfahrt aufs Firmengelände. Tess und Ralf liefen zu ihrem Haus und ich blieb im Hof stehen.

„Ich… ich, ach sorry… ich dachte… das wird nichts mit uns beiden… du hast dein Leben in Frankfurt…“

„Shit Patrick, hast du nicht bemerkt…, I love you… I want you…“

Der Kloß in meinem Hals wurde immer dicker.

„Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat… ich wollte… dachte… es wäre aussichtslos.“

„Ich bin kein little Child… man kann sprechen mit mir!“

„Sorry…“

„Give me deine Adresse! “

„Für was?“

„Ich nehme morgen Airplane und come zu dir.“

„Du willst wirklich zu mir kommen? Du gibst mir noch eine Chance?“

„Du bist der first Man, wo ich denke… this is my man! Ich möchte dich better kennen lernen.“

Ich wusste ja schon sofort, als ich Robert das erste Mal gesehen hatte, dass er etwas Besonderes war, aber jetzt war ich sprachlos. Ich teilte ihm meine Adresse mit und er wollte am nächsten Morgen wieder anrufen, damit ich seine Ankunft wusste.

Nach ein paar lieben Worten verabschiedeten wir uns.

„Und?“

Ich zuckte zusammen. Unbemerkt war Tess wieder zurück gekommen. Sie kicherte wieder und ich atmete tief durch.

„Er kommt morgen hier her…“

„Echt… wow, muss ja ein ganz besonderer Mann sein, dass er dir sogar nachreist.“

„Ja, das ist Robert.“

*-*-*

Tess war noch in derselben Nacht ins Krankenhaus gefahren und ich lag nun in meinem Bett und konnte vor Aufregung nicht einschlafen. Er wollte mich trotzdem… was für ein Mann. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich noch wach gelegen hatte, aber irgendwann wurde ich von einem Klingeln geweckt.

„Ja?“, sagte ich mit belegter Stimme.

„Hab ich dich geweckt?“, kam die vertraute Stimme von Robert aus dem Telefonhörer.

„Ja, aber ist nicht schlimm, wollte eh aufstehen.“

„Okay, mein airplane arrives gegen 1:00 pm.“

Das waren noch fünf Stunden.

„Ich werde da sein“, meinte ich und lächelte.

„Nice! Okay mein Taxi da ist, ich muss gehen.“

„Dann bis später Robert.“

„I love you!“

„Ich liebe dich auch.“

Schon war das Gespräch unterbrochen. … ich liebe dich… wie einfach mir diese Worte über die Lippen gingen und das nach einer Wochen des Kennens. Zu schnell? Ich wusste es nicht. Doch die Schmetterlinge in meinem Bauch schienen sich sehr sicher zu sein.

Wenig später stand ich in der Fabrikhalle bei Ralf.

„Ich weiß nicht wann Tess vom Krankenhaus zurück kommt. Sie wollen euren Vater auf alle Fälle dabehalten“, erklärte mir Ralf.

„Ist es so schlimm?“

Ralf zuckte mit den Schultern.

„Kommst du hier klar, oder kann ich dich irgendwie unterstützen? Ich möchte nachher zum Flughafen fahren.“

„Die Kids werden von der Oma abgeholt und ich Vesper später mit meinen Leuten, du kannst also beruhigt fahren.“

Dies sagte Ralf mit einem Grinsen, als hätte er den Schalk im Nacken sitzen. Ich nickte ihm zu und verließ die Halle. Da fiel mir ein, dass ich noch überhaupt nichts zu Hause hatte. Keine Getränke und auch kein Essen.

So beschloss ich, erst einmal zum Supermarkt zu fahren und mich mit dem Nötigsten zu versorgen. Eine Stunde später war der Kühlschrank gefüllt, nötige Utensilien in den Küchenschränken verstaut.

*-*-*

Ein paar Stunden später auf dem Flughafen trat ich unruhig von einem Fuß auf den anderen, wie eines dieser Schulkids, die ihrer ersten Liebe entgegenfieberten. Das Flugzeug war gelandet und die Passagiere bereits am Auschecken.

Bis dorthin hatte ich meinen süßen Engländer noch nicht entdeckt.

„Are you looking for someone?“, hörte ich hinter mir eine Stimme.

Erschrocken fuhr ich herum und fiel fast in die Arme von Robert.

„Robert…“

„Hi Patrick… god, babe tut das gut, dich zu sehen.“

Wir fielen uns in die Arme. Ich drückte Robert an mich, als wollte ich ihn nie wieder los lassen.

„He little man, mir geht die Luft aus“, hörte ich Robert sagen, was mich dazu veranlasste meine Umarmung zu lockern.

„Danke, dass du gekommen bist und entschuldige…“

Robert legte seinen Finger auf meinen Mund und ich konnte nicht weiter sprechen.

„Let’s forget diese little äh… Episode. Jetzt bin ich hier!“

„Ja. Komm, holen wir dein Gepäck, damit wir hier verschwinden können.“

Wenig später saßen wir im Wagen und ich war Richtung zu Hause unterwegs.

„It’s nice here.“

„Ja, das stimmt und ich muss zugeben, seit ich hier bin, habe ich gemerkt, wie sehr es mir gefehlt hat.“

Der Rest der Fahrt ging eher ruhig von Statten. Als ich in die Einfahrt einbog, sah ich schon Tess und Ralf im Hof stehen. Sie lehnte sich an ihn, als würde ihn etwas bedrücken. Ich ließ meinen Wagen ausrollen und wir stiegen aus.

„Hallo Tess, darf ich dir Robert vorstellen. Robert, das ist meine große Schwester Tess.“

„Die Dame, die bisher über dein Leben wachte?“, grinste Robert und streckte seine Hand aus.

„Hallo Robert“, sagte Tess und schüttelte seine Hand.

Ihre Augen waren rot, sie musste geweint haben.

„Was ist passiert Tess?“, fragte ich einfach.

„Dein Vater hätte fast das Zeitliche gesegnet, weil er so unvernünftig gewesen war.“

Robert sah mich fragend an.

„Er nimmt die Tabletten nicht, die er nehmen muss.“

Er nickte.

„Und was wird jetzt?“, fragte ich.

„Wir werden ihn wohl in ein Heim geben müssen, denn wir können nicht ständig auf ihn aufpassen“, meinte Ralf.

„Ich habe gesagt, ich schaffe das“, protestierte Tess.

Ich griff nach der Hand von Tess.

„Schwesterherz, ich muss Ralf Recht geben. Das ist nicht zu schaffen. Und denk mal an deine Kids, die brauchen dich auch.“

Tess ließ ihre Schultern hängen.

„Ich kenn eure Familie zwar noch nicht“, fing Robert an zu sprechen, „aber bei uns ist es ähnlich gewesen und daran ist fast die Ehe meines Bruders kaputt gegangen.“

Ich wunderte mich über die gute Aussprache von Robert.

*-*-*

Drei Monate später…

Das Land war in Schnee gehüllt. Dass es eine weiße Weihnacht geben könnte, dafür standen die Chancen diesmal sehr gut. Robert war wie fast jedes Wochenende bei mir. Der Mann war sogar so verrückt gewesen, sich hier einen Zweitwagen zuzulegen.

Ich war gerade dabei, den Weihnachtsbaum aufzustellen, als eine Horde Kinder, sprich zwei Kinder, die einen Krach wie eine ganze Horde veranstalteten, in meine Wohnung einfielen. Etwas später kam auch Tess herein.

„Morgen Bruderherz“, rief sie.

„Morgen Tess, was liegt an?“

„Ich wollte nur fragen, ob Robert und du heute Abend zum Essen kommt?“

„Moment, da muss ich den Herren erst fragen.“

„Wo ist er denn?“

„Noch im Bad“, sagte ich und bereute es sofort.

Zwei Monster stürmten mit Siegesgegrölle in Richtung Bad.

„Jennifer  – Marcel, ihr bleibt hier“, rief Tess, doch die beiden hörten nicht.

Wenig später hörte ich eine Tür knallen und viel Kindergelächter. Tess schaute mich an und zuckte mit den Schultern. Plötzlich wurde das Gejohle wieder lauter und Robert kam mit den zweien unter dem Arm zurück.

„Habe hier zwei Kids billig abzugeben!“, meinte er und setzte die zwei wieder auf dem Boden ab.

Tess grinste.

„Du Rob, Tess fragt, ob wir heute Abend zum Essen kommen möchten.“

„Das ist eine good idea, würde mich freuen.“

„Dann ist das wohl geklärt“, meinte ich zu Tess, die gerade meinen Baum unter die Lupe nahm.

„Ich dachte eigentlich, du schmückst ihn… wie soll ich sagen… mehr bunt?“

„Wegen Robert? Nein ich konnte ihn davon überzeugen dass der einfache Baumschmuck viel besser aussieht.“

„Stimmt. Okay, ich geh wieder, ich möchte heut Mittag noch zu Vater.“

Ich schaute Tess an.

„Du könntest ruhig mal mitgehen. Er fragt ständig nach dir“, sagte Tess.

„Irgendwann…“

„Irgendwann könnte es zu spät sein“, meinte Tess, sammelte ihre Kinder ein und verschwand.

Ich ließ mich auf Sofa sinken und starrte auf den Baum. Es war seit Jahren das erste Mal, dass ich mir einen Baum leistete. Früher hatte Vater immer einen riesigen Baum ins Wohnzimmer gestellt und obwohl sich Mutter immer wegen der Größe beschwert hatte, hatte er jedes Mal prächtig ausgesehen.

Jetzt saß ich vor meinem Baum. Groß war er nicht, aber auch nicht zu klein geraten, eben genau richtig für meine Wohnung. Das traditionelle Rot war auch keine Frage gewesen. Mir hatte Rot schon immer gefallen, das konnte man auch an meinem Einrichtungsstil sehen.

Mein Blick fiel auf den Karton mit den Kugeln. Obenauf lag die Spitze, die ich damals von Mutter geschenkt bekommen hatte. Ich sah die Szene noch genau vor meinen Augen, wie sie mir die Spitze das erste Mal gereicht hatte, damit ich sie auf den Baum setzten konnte.

Durch meine Unsicherheit auf der Leiter fiel mir die Spitze aber herunter und zerbrach in Tausend Scherben. Das Ende vom Lied war, dass Vater kam und mir eine ordentliche Ohrfeige gab, deren Spuren ich noch den ganzen Abend hatte spüren dürfen.

„Tess hat Recht, du solltest dich bei ihm sehen lassen.“

Robert war vom Bad zurück und stand im Türrahmen. Ich wusste, wenn Robert feinstes Deutsch ohne englische Einwürfe sprach, dann war es ihm sehr ernst. Ich senkte den Kopf.

„Ich kann nicht“, sagte ich leise.

„Doch du kannst Patrick, du musst nur wollen… und vor allem, du musst endlich loslassen, die Vergangenheit ruhen lassen.“

„Das sagt sich so leicht.“

Robert setzte sich neben mich und nahm mir die Kiste mit den kleinen Kugeln ab, ich konnte dabei sein Rasierwasser riechen, sog es tief in mich ein. Er nahm meine Hand, streichelte über den Handrücken.

„Ich habe nie gesagt, dass es leicht ist, Patrick. Du kannst mir glauben, keiner weiß das besser als ich. Nur habe ich den Fehler gemacht und habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen.“

Ich schaute auf und sah in Roberts funkelnde Augen. Eine Träne lief langsam über seine Wange, die ich zärtlich mit dem Daumen abwischte. Er wiegte sein Gesicht in meiner Hand.

„… es tut aber so weh…“, sprach ich leise weiter, „die Erinnerungen so frisch…, als wäre es gestern gewesen.“

„Der Schmerz sitzt tief Patrick, die Seele gebrochen…“

Ich nickte mit dem Kopf.

„… doch du musst damit abschließen, sonst gehst du irgendwann vor die Hunde…“

Ich lehnte mich an ihn und er legte seinen Arm um mich.

„Vergessen wirst du nicht, die Bilder wirst du immer sehen. Irgendwann kommt aber der Tag, an dem du mit diesen Bilder leben kannst, du keinen Schmerz mehr empfindest.“

„Glaubst du?“

Robert nickte.

„Zieh dich um und fahr mit Tess zu deinem Vater. Er ist nicht mehr der Tyrann, der er früher einmal war. Er ist ein alter, gebrochener Mann, dessen Lebensuhr langsam abläuft.“

Ich schaute Robert an.

„Come on, ich geh zu Tess und sage ihr, she shall wait for you.“

Roberts altbekanntes Grinsen zierte seinen Mund, als er sich erhob.

„Okay, ich beeile mich, bin gleich unten.“

Robert zog mich zu sich hoch und küsste mich.

*-*-*

In den ersten Tagen des Frühlings starb Vater an Herzversagen. Die alte Pumpe hatte einfach aufgehört zu schlagen. Die Trauerfeier war groß, Vater war sehr bekannt. Die vielen Reden brachten Erinnerungen mit sich.

Ich hatte angefangen, mit Hilfe von Robert, mit meinen Erinnerungen zu leben, wenn sich das anfangs auch sehr schwierig gestaltete und so mancher Abend tränenreich vorüber ging. Die Last wurde weniger, auch weil mir Robert tragen half.

Er konnte mir die Last nicht abnehmen, aber er konnte mir dabei helfen, besser damit umgehen zu können… zu lernen, dass meine Vergangenheit zu mir gehörte und eben das aus mir gemacht hat, was ich heute bin.

*-*-* Ende*-*-*

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