Engelsgewalt und das verlorene Lächeln

Ein Neuanfang? – 20.Dezember – Gabriel

„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte Gabriel Berger wird von dem Vorwurf der mehrfachen Körperverletzung freigesprochen. Die Gerichtskosten sowie die Auslagen des Angeklagten gehen zu Lasten der Staatskasse.

Zur Urteilsbegründung. Der Angeklagte ist nicht aus heiterem Himmel auf den Geschädigten losgegangen. Vielmehr ist er, wie sich in dieser Verhandlung gezeigt hat, dem Zeugen Timo Krist zu Hilfe geeilt, der vom Opfer und zwei seiner Kollegen bedroht und angegriffen wurde. Somit ist das Eingreifen von Herrn Berger als Notwehr zu sehen.

Gegen dieses Urteil gibt es das Rechtsmittel der Revision…“ der Richter blickte zum Staatsanwalt, der Gabriel anfangs heftigst unter Druck gesetzt hatte.

„Die Staatsanwaltschaft verzichtet auf Rechtsmittel“, kam es prompt zurück.

Der Richter fuhr fort. „ Somit ist das Urteil rechtskräftig. Die Verhandlung ist geschlossen.“

Wie im Film lief diese Szene immer wieder vor meinen Augen ab. Ich hatte schon verdammt viel Glück gehabt, dass es so gut für mich ausgegangen war. Ich war ja auch kein unbeschriebenes Blatt. Ich… ich bin Gabriel Berger, siebzehn Jahre alt, einen Meter neunundsiebzig groß, schlank und sportlich. Ich habe kurze blonde Haare, die immer irgendwie verstrubbelt aussehen. Eigentlich seh ich ganz gut aus, was sich bei den Mädels schon oftmals gezeigt hat. Aber wirkliches Glück hatte ich leider nicht bei ihnen. Dabei hätte ich so gerne endlich eine Freundin gehabt.

Das mag wohl an meiner Vorgeschichte liegen. Ich hatte meine Eltern nie gekannt und bin im Heim aufgewachsen. Von Liebe und Zuneigung oder Anerkennung war da nie viel zu spüren. Also hatte ich mir die Anerkennung anderweitig verschafft. Das war entweder bei Schlägereien oder weil ich im Einkaufscenter schon einige Male etwas hatte mitgehen lassen. Auch die Jüngeren im Heim hatte ich abgezockt und ihnen das Taschengeld aus der Tasche gezogen. Für einige Taten wurde ich auch schon betraft, aber glücklicherweise nicht für alle.

Das Urteil von heute Morgen unterschied sich aber von den vorherigen. Ich war wirklich unschuldig. Ich hatte nur einem Jungen, der von fünf Leuten angegriffen worden war, geholfen. Zugegeben, dabei hatte ich etwas unter den Angreifern gewütet. Zwei Nasenbeine waren gebrochen, drei Rippen waren durch und zwei angeknackst. Aber die hatten es auch nicht anders verdient. Zu fünft auf einen einzigen losgehen ist echt feige. Und dann muss da auch noch der Sohn von einem Staatsanwalt dabei sein. Kein Wunder, dass die mich so schnell vor Gericht bringen konnten. Aber die würden sich noch wundern.

Ich schlenderte durch die Stadt. In zwei Wochen ist es wieder soweit. Wieder einmal Weihnachten, wieder in dem bescheidenen Heim und wieder alleine. Und bei dem miesen Wetter mit Regen und Eisregen würde auch keine Weihnachtsstimmung aufkommen. Nicht einmal am Weihnachtsmarkt. Ich ging gelangweilt an den Rammschläden vorbei. Einzig der kleine Stand mit den Holzfiguren konnte mich ein wenig in Stimmung bringen. Es gab dort Räuchermännchen, kleine Windräder die durch die Wärme der Kerzen angetrieben wurden und Christbaumanhänger. ‚Solche Engel möchte ich später auch an meinem Weihnachtsbaum haben, wenn ich mit meinen Liebsten davor stehe’, dachte ich. Ohne lange zu überlegen kaufte ich mir zwei dieser Engel. Die würden sich in meinem Zimmer gut als kleine Deko machen.

Etwas in Weihnachtslaune eingetaucht ging ich zurück zum Heim und kam dabei an einem schlossähnlichen Gebäude vorbei. Die Privatklinik Stiftsee. Wenn man einmal krank war oder einen Unfall hatte, konnte man von Glück reden, wenn man dorthin kam. Der Ruf des Hauses war exzellent, da dort die besten Ärzte für die, natürlich, Privatpatienten zuständig waren.

Ich nahm meine Tasse frisch gebrühten Kaffee und ließ mich auf die Couch fallen. Man war ich fertig. Um etwas zur Ruhe zu kommen, schaltete ich den Fernseher an und was lief? Gerichtsshows. So einen Schrott musste ich mir nicht antun, vor allem da ich wusste, wie falsch diese Shows eigentlich waren. Ich hatte da ja meine eigenen Erfahrungen gemacht. Also schaltete ich auf MTV und tat mir ein paar der supertollen Musikclips an. Ich spielte dabei kurz mit dem Gedanken morgen diesen Timo zu besuchen, aber verschob die Überlegungen auf später. Bald schlief ich ein.

Endlich draußen aber gleich wieder drinnen – 30. November – Timo

‚Puh, das ist ja gut gelaufen’, dachte ich mir. Ich hatte mich gerade mit Katrin, meiner besten Freundin, getroffen. Wir kannten uns mittlerweile seit vierzehn Jahren und hatten uns damals im Kindergarten kennen gelernt. Geheimnisse hatten wir eigentlich nie voreinander gehabt. Eigentlich? Ja, die letzten anderthalb bis zwei Jahre ungefähr hatte ich ein Geheimnis vor ihr.

Aber erstmal zu mir.

Mein Name ist Krist, Timo Krist. Ich bin ein sechzehn-jähriger mittelprächtiger Schüler, der im Bad länger als seine Mutter braucht. Das liegt an meinen mittellangen dunkelblonden Haaren mit hellen Strähnchen. Die müssen immer perfekt sitzen, sonst geh ich nicht aus dem Haus. Dazu blitzblaue Augen. Na, klingt das gut?

Die Mädels aus meiner Stufe finden das gut, aber das ist mir egal. So kommen wir auch wieder zum Grund des Treffens mit Katrin und dem ‘eigentlich‘ kein Geheimnis. Um es kurz zu machen, ich bin schwul.

Katrin war damit die Erste, bei der ich mich geoutet hatte. Es ist auch total gut gelaufen. Klar, wie ihr jetzt alle vermutet, sie hat es schon geahnt, da ich beim Ausgehen und Shoppen immer nur den Jungs nachgeguckt hatte. Also war es nicht so schwer zu erraten gewesen. Wir hatten auch miteinander überlegt, wie ich es meinen Eltern beibringen konnte. Gut gelaunt und gestärkt durch das Outing ging ich durch den Park nach Hause.

„Du mieses kleines Stück Dreck.“

Ich hörte eine Stimme hinter mir rufen. Wen meinte sie? Ich wollte mich umdrehen und umsehen, doch bevor ich was erkennen konnte, spürte ich einen heftigen Schmerz in der Nierengegend. Der nächste Schlag traf mich direkt im Gesicht, ich konnte fühlen, wie etwas Warmes von meiner Stirn über die Wange runter lief. Dann sah ich sie. Es waren die fünf Jungs, die vorhin im Cafe am Nebentisch gesessen hatten, als ich mit Katrin gesprochen hatte.

Ich versuchte wegzulaufen, doch weit kam ich nicht.

„Kleine dreckige Schwuchtel….“

Ich wurde von zwei Händen gepackt, während drei Schläge in meine Bauchgegend und in mein Gesicht prasselten. Ich schrie verzweifelt um Hilfe, aber niemand kam. Danach wurde es schwarz um mich.

Plötzlich befand ich mich in einem grellen Licht. Ich hörte weit entfernt die Stimmen der Jungen, die mich überfallen hatten. Doch sie klangen anders. Sie klangen panisch und schmerzverzerrt.

Dann war es auf einen Schlag still.

Ich versuchte die Augen ein Stück zu öffnen. Da sah ich ihn, wenn auch etwas verschwommen. Meinen Retter. Ganz in weiß gekleidet und von hellem Licht umgeben. War das ein Engel?

„….ja genau, ein Überfall auf einen Jugendlichen im Stadtpark. Am Westeingang beim Delfinbrunnen…… Ja bitte schnell. Er blutet stark am Kopf……ja er atmet, scheint aber nicht bei Bewusstsein zu sein…okay, ich bleibe bei ihm“

Mein Engel beugte sich zu mir runter. Mein Blick wurde etwas klarer. Es war kein Engel, es war ein süßer Junge mit blonden Haaren, die richtig schön verstrubbelt waren, und blauen Augen. Genau das, was ich an einem Jungen gerne mochte.

„Hey du, keine Angst, der Notarzt ist unterwegs“, beruhigte er mich.

Ich erkannte, dass die Erleuchtung seiner Gestalt von der Straßenlaterne hinter ihm kam und versuchte zu lächeln und etwas zu sagen. Erneut wurde es schwarz.

Das Nächste, an das ich mich erinnern konnte war, dass alles weiß war und ein seltsamer Geruch in der Luft hing.

Ich öffnete etwas mühsam meine Augen, die sich nur langsam an das grelle Neonlicht gewöhnten.

„Hey Timo. Bist du endlich wach? Wie geht’s dir denn?“, fragte mich eine helle freundliche weibliche Stimme.

Ich versuchte meinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der ich die Stimme vermutete. Es blieb beim Versuch, da ich schon bei der ersten Bewegung sofort einen höllischen Schmerz verspürte.

„Hey hey immer langsam. Du solltest es ganz vorsichtig angehen Timo“, hörte ich wieder diese ruhige nette Stimme.

„Was, ähm wo bin ich, wer bist du?“ Es fiel mir schwer zu sprechen, meine Stimme klang total zittrig.

„ Also Timo, du bist in der Privatklinik Stiftsee, mein Name ist Schwester Steffi und bevor ich weiter erzähle, trink erst mal was.“

Sie hielt mir lächelnd ein Glas Wasser hin. Mühsam setzte ich mich unter ihrer tatkräftigen Mithilfe auf und trank ein paar Schlucke.

„Entschuldigung Schwester, ich war noch nicht ganz bei mir. Können Sie mir sagen was mit mir los ist?“

Steffi lachte.

„Also mein Lieber, zuallererst bleibst du mal bei Steffi und beim du, okay? Und zu deiner zweiten Frage, da muss ich dich an den Doc verweisen. Der kann es dir genauer sagen. Ich weiß nur, dass du übel zugerichtet hier ankamst.“

Ich nickte stumm und zuckte etwas zusammen. Langsam kamen die Erinnerungen wieder.

„Steffi? Wie lang bin ich hier?“

„Du wurdest vor drei Wochen eingeliefert“

„Drei Wochen?!“

Im selben Moment erschrak ich.

„Was ist los Timo?“

„Meine Eltern, ich ..ich…meine Eltern. Wo sind sie? Sie machen sich sicher Sorgen.“

„Beruhige dich Timo, wir haben Sie schon verständigt, keine Angst. Deine Eltern sind auch hier im Haus, sie sprechen gerade mit Dr. Lopes. Sie haben dich so schnell es ging hierher verlegen lassen, da ihr den Doc anscheinend kennt.“

Ich nickte.

„Ja, er und mein Vater sind zusammen zur Schule gegangen.“

„Wow, du kannst ja sogar lächeln“, grinste mich Steffi an.

Ihre gute Laune war echt ansteckend, obwohl mir grad gar nicht nach Lachen war.

In diesem Moment ging die Tür auf und ein blonder Junge kam reingestürmt.

„Du Steffi…….“

„Jonas! Du kannst hier nicht einfach reinstürmen. Was denkst du dir denn dabei?“

Der Junge stoppte abrupt.

„Entschuldigung“, nuschelte er.

Steffi sah ihn böse an und machte mit dem Kopf eine Bewegung in meine Richtung.

„Nicht bei mir.“

Jonas kam ein paar Schritte ins Zimmer an mein Bett, den Blick zum Boden gesenkt.

Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn anstarrte. ‚Der ist ja richtig süß’, dachte ich, als er so verlegen näher kam.

„Äh…..en-entschuldigen Sie b-bitte. Ich wollte nicht so r-rein-st-stürmen. I-ich….“

Er hob seinen Kopf und sah mich das erste Mal an. Als er noch etwas sagen wollte, kam Steffi ihm zuvor.

„Raus jetzt hier und warte im Schwesternzimmer. Ich bin gleich da.“

Etwas zerknirscht schlurfte der Junge aus dem Zimmer.

„Das war mein kleiner Bruder Jonas. Es tut mir leid, dass er so reingeplatzt ist…..Timo?“

Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

„Ähm…ja? Sorry, war grad nicht ganz hier.“

Steffi musste wieder grinsen.

„Das hab ich gemerkt. Also noch mal, der KLEINE war mein kleiner Bruder. Er ist zwar schon sechzehn, aber manchmal genauso stürmisch wie ein Zwölfjähriger.“

„Ist doch nicht schlimm, ich fands irgendwie süß.“

Verdammt, was hatte ich da jetzt gesagt.

Steffi legte ihren Kopf etwas zur Seite und guckte mich an.

„Süß? Wie meinst du das?“

„Naja süß wie…süß…also…äh…wie man eben ein stürmisches Kind süß findet.“

„Aaaaahja, naja fürs Erste glaub ich dir das mal. Ich werde mal nach ihm sehen. Der Doc und deine Eltern werden sicher auch bald reinkommen. Ich sehe nachher noch mal nach dir, ja?“

„Ja danke Steffi.“

Sie drehte sich um und ging zur Tür.

„Äh Steffi?“

„Ja?“

„Sag mal, habt ihr hier irgendwas zu lesen? Comics oder so?“

„Keine Lust auf fernsehen?“

„Ne nicht wirklich“

„Ich werd mal sehen ob ich was finde“

„Danke Steffi“

Nach einem letzten Lächeln wandte sie sich endgültig zur Tür und verließ das Zimmer.

Mein Alltag – 20. Dezember – Gabriel

„Gabrieeeel….Gabrieeeel….Los aufwachen, es gibt Essen!“

Die nervige Stimme meiner Betreuerin Frau Urbrüg hallte durch den Flur. „Kann die Alte mich nicht mal in Ruhe lassen?“ Ich rappelte mich hoch und kickte dabei gleich mal die halbvolle Kaffeetasse über Tisch und Teppich.

„Fuck, das war wieder notwendig.“

Schnell versuchte ich mit einem Handtuch den Kaffee aus dem Teppich aufzusaugen und den Tisch abzuwischen, bevor die Großmeisterin dieser Einrichtung das mitbekommen konnte. In dem Moment flog schon die Tür auf und die leicht übergewichtige Dame stand im Türrahmen. Mit hochrotem Kopf starrte sie auf die Bescherung.

„Gabriel Maximilan Berger, kannst du nicht aufpassen? Es nur Ärger mit dir! Musst du immer alles kaputtmachen und jemandem wehtun? Was denkst du dir nur dabei? Du kannst aber auch absolut nichts richtig machen. Wisch sofort die Sauerei weg und komm essen. Und du hast heute Küchendienst, verstanden? Damit du wenigstens zu irgendetwas nützlich bist“

Mit diesen Worten drehte sich um und stampfte, begleitet von einem Erdbeben der Stärke 6.9 bei jedem Schritt, wieder nach unten.

Ich fühlte die Tränen in Richtung meiner Augen steigen. Warum nur? Ich wollte doch auch nur lieb gehabt werden. Liebe und Geborgenheit. Klar, ich hatte auch einiges an Mist gebaut, doch verdiente ich es deshalb, keine Liebe, keine Zuneigung und keine Geborgenheit zu erleben?

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, wusch mir kurz das Gesicht und ging zum Abendessen. Es gab wunderbar fetttriefende Fischstäbchen, die wirklich nur nach Fett schmeckten und total versalzenes Kartoffelpüree. Wenn die uns umbringen wollten, könnten sie das echt weniger qualvoll machen.

Wie immer durften wir während dem Essen kein Wort wechseln. Ich war jetzt mein ganzes Leben hier, aber ich hatte nicht wirklich Freunde in dem Heim. Die, mit denen ich mich verstanden hatte, lebten mittlerweile in einem neuen Zuhause. Simon, einer der wenigen Jungs, mit denen ich mich doch sehr gut verstand, blickte mich fragend an und deutete auf meine Augen. Ich winkte ab, nahm mein Geschirr und brachte es zur Ausgabe zurück. Dort wurde ich auch gleich eingeteilt, die Küche zu putzen und danach den Müll rauszutragen. ‚Toll, jetzt darf ich den Müll der anderen auch noch wegräumen.’

Nach knapp zwei Stunden war die Küche sauber. Eigentlich wäre sie das auch schon eine Stunde vorher gewesen, doch unser Wachhund wollte anscheinend alles vom Boden lecken können.

Als letzte Handlung meines heutigen Putzdienstes machte ich mich mit den Mülltüten auf den Weg zu den Müllcontainern. Vor der Tür erwartete mich ein ekelhafter Eisregen.

‘Ich hab das Glück echt gepachtet’, dachte ich und ging, beziehungsweise rutschte eher, in Richtung Mülleimer. Ich betrachtete dabei die Autos, wie sie, wie auf rohen Eiern, dahin schlichen. Die Scheinwerfer und Rückleuchten spiegelten sich auf der Straße wider, was mich an die Bilder aus Las Vegas erinnerte, die ich aus dem Fernsehen kannte. Da wollte ich auch einmal hin.

Aus dem Augenwinkel merkte ich, dass sich ein Lichterpaar schneller näherte als die anderen und wollte mich in Richtung der Lichtquelle drehen, doch es war zu spät. Der viel zu schnelle Wage kam ins Schleudern und raste direkt auf mich zu. Das Letzte, was ich sehen konnte war, dass der Fahrer mit hektischen Lenkbewegungen versuchte, das Auto unter Kontrolle zu bringen und sein panischer Blick.

Dann kam der Aufprall.

Bekannter Besuch – 20. Dezember – Timo

Ein lautes dumpfes Schlaggeräusch weckte mich aus meinen Träumen.

„Och Ingrid, irgendwann wirst du auch noch lernen, wie man eine Türe öffnet.“

Ich konnte mir das süffisante Grinsen des Mannes mittleren Alters vorstellen, der da vor der Türe stand. Das war typisch für meinen Paps.

„Jaja Marcus, irgendwann zahl ich dir das alles heim. Verlass dich drauf.“

Dafür hatte mein Paps sicher den Ellbogen meiner Mum in die Rippen bekommen.

„Tust du das nicht jeden Tag mit deinen Kochkünsten?“

Darauf fiel meiner Mutter nichts mehr ein. Stattdessen öffnete sie die Tür diesmal in die richtige Richtung und beide betraten mein Zimmer.

Darf ich vorstellen, meine Eltern. Meine Mum, Ingrid, die eigentlich fast immer Unsinn im Kopf hat, aber für die Familie alles geben würde. Sie arbeitet zu Hause als freiberufliche Designerin und ich muss sagen, sie ist echt gut.

Tja, und mein Paps, der steht ihr beim Unsinn machen in nichts nach. Er führt unsere Familientradition väterlicherseits fort und leitet das, von meinem Opa gegründete, Autohaus.

Beide sind unschlagbar nett und sie tun alles, um mich glücklich zu sehen, aber ich bin nicht verzogen, denke ich. Kurz und gut, sie sind leicht chaotisch, aber die besten Eltern, die es gibt.

Meine Mutter stürmte sofort aufs Bett zu und nahm mich fest in den Arm.

„Timo, was ist los mit dir? Was machst du denn für Sachen? Wie ist das denn passiert? Mensch du Armer. Marcus sieh dir mal an, was die mit unserem Schatz gemacht haben. Wer war das? Warum haben die das gemacht? Geht es dir gut? Jetzt antworte doch mal.“

„Das würde er sicher tun, wenn du aufhören würdest, das zu Ende zu bringen, was die Typen versucht haben“, röchelte ich.

Erschrocken ließ meine Mutter mich los und ging einen Schritt zurück. Mein Paps kicherte wie ein Schuljunge.

„Jaja war ja klar, also die große Klappe hast du von deinem Vater. Aber wenn du schon wieder solche Meldungen loslässt, dann kann es dir gar nicht sooo schlecht gehen“, grinste sie mich an.

Mein Paps kam nun ebenfalls zu mir und drückte mich vorsichtig an sich.

„Junge, wir sind so froh, dass es dir besser geht. Aber sag, möchtest du uns nicht erzählen was da passiert ist und warum die auf dich losgegangen sind?“

Diese Frage hatte ich insgeheim befürchtet. Jetzt müsste ich es eigentlich erklären. Erklären, dass es von mir keinen Nachwuchs geben würde, dass ich ihnen einen Schwiegersohn bieten würde aber niemals eine Schwiegertochter. Aber wie mach ich das am Besten? Werden sie mich danach noch genau so lieben? Ja klar, ich hatte gerade erzählt was für tolle Eltern sie schon immer gewesen waren, aber man kann nicht in die Köpfe der Menschen hineinsehen. Ich musste erstmal etwas Zeit gewinnen.

„Ja ähm nein. Ich meine…also ich kann mich nicht genau erinnern, was da wirklich passiert ist und warum.“

Es fiel mir schwer sie zu belügen. Ich wusste ja alles noch sehr genau.

„Ingrid, wir sollten dem Jungen ein wenig Ruhe gönnen, damit er wieder fit wird.“

„Ja aber nein, wir müssen doch wissen was passiert ist.“

In mir stieg leichte Panik auf. Was sollte ich jetzt sagen?

Es klopfte und die Tür ging auf.

Dr. Lopes und ein Mann in einem doch ziemlich schicken Anzug kamen herein.

„Guten Abend“, grüßte der gut gekleidete Herr, woraufhin wir den Gruß erwiderten, ihn aber etwas fragend ansahen.

„Ingrid, Marcus, Timo, das ist Kriminalkommissar Bröger. Er ist der führende Ermittler in deinem Fall. Wir als Ärzte mussten natürlich auch Anzeige erstatten.“

Der Kommissar trat auf meine Eltern zu und gab ihnen die Hand, danach kam er zu mir.

„Timo, würden Sie mir bitte ein paar Fragen beantworten, den Überfall betreffend? Wir sind zwar in der, ich sag mal glücklichen, Lage, dass wir seit einem Monat im Park Überwachungskameras installiert haben und somit die Täter schon ausfindig machen konnten, dennoch hätte ich ein paar Fragen an Sie.“

Meine Mutter schritt sofort ein.

„Nein Herr Dokto…äh Kommissar. Er ist doch…“

„Mum, es ist okay. Ich denke, das bekomme ich gebacken.“

„Willst du…entschuldige wollen Sie, dass ihre Eltern dabei sind?“ Er sah mich etwas seltsam aber doch freundlich an.

„Sie können mich schon duzen. Mir wäre es lieber wenn wir das ohne sie machen“, sagte ich leise.

„Aber Timo…..“

Weiter kam meine Mum nicht. Mein Paps hatte sie am Arm genommen und ging schon zur Tür.

„Ihr sagt bitte Bescheid wenn ihr fertig seid. Okay Timo?“

Ich nickte und meine Eltern gingen mitsamt dem Arzt aus dem Zimmer.

„Timo worum es geht ist Folgendes, wir haben auf dem Videofilm eigentlich alles gesehen und gehört. Es geht nur um ein paar grundsätzliche Fragen.“

Ich zuckte zusammen, als ich hörte, dass das Video mit Ton war.

„Dir macht die Tatsache, dass das Video mit Ton ist, etwas Angst, oder?“

Ich nickte.

„Das war auch der Grund warum ich dich wegen deiner Eltern gefragt habe. Ich denke mal, die beiden wissen nichts von dir und deinem schwul sein oder?“

„Nein, ich habe es noch nicht erzählt. Ich weiß nicht wie sie reagieren werden. Aber eine andere Wahl werde ich nicht haben, als es ihnen bald zu sagen. Sonst kommt es während des Prozesses raus und das muss nicht sein.“

„Da gebe ich dir Recht. Aber erhol dich erst mal ein wenig. Ich bin sicher, sie werden damit klarkommen.“

Ich nickte.

„Timo, woher wussten es die Jungs?“

Ich fing an zu erzählen. Von dem Moment, an dem ich mit Katrin ins Cafe gekommen war bis zu der Stelle, an der ich meinen Engel gesehen hatte. Ich nannte ihn nur vor Kommissar Bröger nicht ‚Engel’.

Er hörte mir aufmerksam zu und machte sich Notizen.

„Hast du eine Ahnung wer dieser Junge gewesen sein könnte? Er hat deine Angreifer ziemlich auseinander genommen.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Nein wirklich nicht. Wenn ich ihn zuvor schon wo gesehen hätte, wäre er mir sicher aufgefallen.“

Kommissar Bröger grinste mich an.

„Natürlich.“

Ich fühlte wie die Röte in mir hochstieg und ich anfing zu tomatisieren.

„Es war ein Junge mit Namen Gabriel Berger. Er kam zufällig vorbei und ist sofort eingeschritten. Das hätte ihn aber fast um Kopf und Kragen gebracht.“

„Wieso das Herr Kommissar?“

„Sagen wir‘s mal so, Gabriel ist kein unbeschriebenes Blatt bei der Jugendkammer und bisher eher negativ als positiv aufgefallen. Bei deinen Angreifern waren auch sehr einflussreiche Jungs dabei.“

„Inwiefern?“

„Einer der Angreifer ist der Sohn des Staatsanwalts Eisinger. Die haben mächtig Druck ausgeübt auf uns. Heute hat die Verhandlung gegen ihn stattgefunden“

„Gegen ihn? Aber…..aber er hat mir geholfen, sonst nichts.“

„Das konnten wir Gott sei Dank anhand der Videoaufnahmen beweisen und Gabriel wurde freigesprochen. Der Richter war der Meinung, dass es Notwehr war.“

Es klopfte wieder und mein Vater steckte den Kopf durch den Türspalt.

„Dürfen wir?“

Kommissar Bröger nickte.

„Ja, ich bin fertig mit meinen Fragen. Wenn noch etwas sein sollte, werde ich mich bei dir melden. Es kann auch sein, dass du gar nicht vor Gericht erscheinen musst, wenn du nicht willst, es gibt ja die Videoaufzeichnung. Das wird sich aber alles erst zeigen. Bis es zum Prozess kommt, werden vermutlich noch Monate vergehen.“

Meine Eltern kamen mit Doktor Lopes wieder ins Zimmer. Kommissar Bröger verabschiedete sich und wünschte mir noch gute Besserung, bevor er ging.

Der Doktor kam zu mir.

„Na Timo, unser Wiedersehen habe ich mir auch anders vorgestellt“, grinste er.

„Nicht nur Sie Doc.“

„Wie fühlst du dich eigentlich?“

„Och, mir geht’s gut, kann ich mit meinen Eltern gleich nach Hause fahren?“

„Nein Timo, das wird nicht gehen. Bei deinen Verletzungen wirst du wohl oder übel noch zwei bis drei Tage bei uns zu Gast sein. Ich kann dich aber beruhigen, Weihnachten wirst du auf jeden Fall zu Hause feiern.“

„Ist es so schlimm?“

Der Doc nahm mein Krankenblatt.

„Ich zitiere: Schädel-Hirn-Trauma, rechts eine Serienrippenfraktur, eine Rippe ist gebrochen und drei angebrochen, links eine angeknackste Rippe, eine Platzwunde über deinem linken Auge, die mit acht Stichen genäht werden musste, ein geprelltes Handgelenk, mehrere Prellungen an Oberkörper und Rücken und ein paar Schürfwunden. Du hast echt Glück gehabt, Timo.“

Meine Augen wurden immer größer.

„Da werde ich bei Germany’s Next Top Model wohl dieses Mal keine Chance haben, oder Doc?“

„Naja, wenn es eine Halloween Sondersendung geben würde, dann wärst du ganz vorne dabei.“

Das konnte nur von meinem Vater kommen.

„Danke Paps, ich hab dich auch wahnsinnig lieb.“

Er wuschelte mir durch die Haare. „Das weiß ich mein Kleiner.“

Die Tür wurde aufgerissen.

„Doktor Lopes, ein Notfall. Ein Jugendlicher ist von einem Auto überfahren worden. Wir müssen diesen Notfall aufnehmen der Krankenwagen kommt bei dem Chaos nicht durch. Wir wissen nichts genaues über seinen Zustand.“

Die Miene von Dr. Lopes verfinsterte sich.

„Ich komme. Ihr entschuldigt mich ja?“

Mit diesen Worten steckte er meine Krankenakte wieder in das Fach am Bett und rannte aus dem Zimmer.

Himmelsboten – 20.Dezember – Gabriel

Leise Stimmen kamen immer näher. Ich öffnete die Augen. Ein Arzt und ein Mann in einem schicken Anzug kamen zu mir. Ich war in einem kleinen karg eingerichteten, eintönig weiß gefliesten Raum. Es war sehr kalt.

„Jetzt sind Sie heute schon zum zweiten Mal hier, Kommissar Bröger“, hörte ich den Arzt beim Näherkommen sagen. Auf seinem Namensschild stand Dr. Lopes.

Auch der Mann namens Bröger stand nun genau neben mir.

„Er wurde mit multiplen Frakturen im Brustbereich eingeliefert, dazu ein schweres Schädel-Hirntrauma, eine Rippe hat die Milz durchbohrt und er hatte eine traumatische Asphyxie.“

„Asphy….was?“

„Asphyxie wird auch Perthes-Syndrom genannt. Dabei wird der Brustbereich so stark gequetscht, dass das Blut hoch in Hals und Kopf gedrückt wird, was weitergehend im Fall dieses Jungen hier zu einer Hirnblutung geführt hat.“

„War er noch am Leben, als er eingeliefert wurde?“

„Ja, es waren noch minimalste Lebenszeichen vorhanden, aber leider konnten wir nichts mehr für ihn tun. Er ist um sechzehn Uhr dreißig verstorben“

‚War er noch am Leben als er eingeliefert wurde?’

„Hallo, ich bin hier“, rief Gabriel, doch keiner der beiden Männer reagierte.

„Doktor, wissen Sie wer der Junge ist?“

„Ja, er hatte ein Portemonnaie mit einem Perso dabei. Der Junge heißt…. Gabriel Maximilian Berger, sechzehn Jahre alt. Schlimm, er hatte sein Leben noch vor sich und das nur weil sich einer nicht im Griff hat und alkoholisiert Auto fährt.“

Der Doktor schüttelte wütend den Kopf.

„Und dann noch genau diesen Jungen, der sich vor knapp drei Wochen für einen Ihrer Patienten eingesetzt hatte.

„Wie meinen Sie das Herr Bröger?“

„Gabriel hat eingegriffen, als Timo überfallen wurde. Er ist der Junge auf unserem Video. Er hat Timo gerettet.“

Betroffen sah der Arzt Bröger an, wandte sich zur Tür und ging. Kommissar Bröger folgte ihm.

Das Licht ging aus.

Alles war dunkel.

Ich konnte nicht fassen, was ich da eben gehört hatte. Ich lag neben den beiden Typen und hatte gerufen. Verdammt, ich war doch nicht tot. Ich musste träumen. Ja, genau das war es. Ich hatte bei dem Unfall eine Gehirnerschütterung erlitten und träumte. Ich musste mich zwingen aufzuwachen. Ich hatte einmal bei Galileo gesehen, dass das das wirklich funktionieren konnte. Ich schloss meine Augen und presste sie fest zusammen. Die Kälte wich allmählich einer angenehmen Temperatur und ich öffnete meine Augen wieder.

Ich erkannte den Raum wieder. Es war derselbe, in dem ich gelegen hatte, als ich die Augen geschlossen hatte. Nur viel heller. Ich suchte die Lichtquelle und fand sie. Aber das konnte nicht sein. Das war unmöglich.

Süßer Zeitschriftenjunge – 20. Dezember – Timo

Meine Eltern und ich redeten noch ein wenig darüber, wie froh sie seien, dass mir nichts Schlimmeres passiert war. Außerdem machten wir eine Liste, was ich für die paar Tage, die ich noch hier war, benötigen würde, darunter mein Handyladegerät, sowie ein paar CDs und DVDs. Meinen Laptop hatte meine Mutter in weiser Voraussicht schon mitgebracht. Ich hatte meine Eltern auch gebeten, Katrin und ein paar Freunde anzurufen und zu informieren, in der Schule wollten sie ebenfalls Bescheid sagen.

Während wir so am Planen waren, flog plötzlich die Tür auf und dieser Jonas stürmte ins Zimmer.

Als er jedoch meine Eltern sah, blieb er stehen.

„Hallo, Entschuldigung aber ich wollte Timo etwas zu lesen bringen. Steffi hat gesagt du hattest nach Zeitschriften und Comics gefragt. Ich hab mal zusammengesucht was zu finden war. Also wir hätten da Frau im Spiegel, Die neue Post, Mickey Maus Comics, Computerzeitschriften und auch paar Bravos.“

Er grinste stolz und legte sie auf den Tisch am Fenster.

„Viel Spaß damit und vielleicht sieht man sich wieder.“

Hatte ich mich getäuscht oder hat er mir zugezwinkert?

Schon war er wieder weg und die Tür flog mit einem lauten Knall ins Schloss.

Meine Eltern sahen mich fragend an, besonders meine Mutter.

„Wer oder was war das?“

„Das, Mum, war der kleine Bruder von Schwester Steffi.“

„Der arbeitet aber nicht hier, oder?“, erkundigte sie sich weiter.

„Nein, ich glaub nicht. Ich hab bisher nicht gefragt.“

Meine Mutter schüttelte den Kopf.

„Was solls, wir müssen jetzt dann aber los Timo. Das Wetterchaos mit Regen, Eis und Hagel hat den Verkehr ziemlich lahm gelegt.“

„Ihr kommt mich aber morgen wieder besuchen ja?“

„Aber sicher. Geh bald schlafen damit du schnell gesund wirst Timo.“

Ich bekam von beiden noch einen Abschiedskuss. Den gab es immer, auch vorm schlafen gehen.

Die Tür ging zu und ich war wieder alleine in meinem Zimmer, was sofort ein Gefühl der Einsamkeit in mir hervorrief. Um mich abzulenken, durchsuchte ich die Zeitschriften nach etwas, was mich interessieren könnte. Ich entschied mich für eine Bravo-Ausgabe aus dem letzten Jahr. Die Artikel hatten sich nicht geändert seit der Zeit, als ich noch Bravo gekauft hatte. Auch bei Doktor Sommer war immer dasselbe. Ein Beitrag interessierte mich besonders:

Ich bin schwul, wie sag ich es meinen Eltern

J.,15:

Ich weiß seit einiger Zeit, dass ich schwul bin. Ich habe es noch niemandem aus meiner Familie oder meiner Clique gesagt, nur meiner besten Freundin und meiner großen Schwester. Ich habe aber vor allem Bedenken, es meinem Vater mitzuteilen. Wie soll ich das alles denn am besten machen?

Lieber J.,

klar verstehe ich dich, dass vor allem die Menschen, die dir wichtig sind, wissen sollen, dass du homosexuell bist. Du brauchst allerdings nichts zu überstürzen und musst auch nicht zuerst deinen Eltern davon erzählen.

Du hast ja den ersten Schritt getan und es deiner besten Freundin und deiner großen Schwester erzählt. Leider hast du nicht geschrieben, wie die beiden reagiert haben. Wenn die beiden es gut aufgenommen haben, dann hast du………………………..

Ich hörte auf zu lesen. Steht doch eh immer das Gleiche drin.

Meine Gedanken kreisten um mein eigenes Outing bei meinen Eltern. Wie würde es ablaufen? Spontan oder doch geplant? Wie wären die Reaktionen? Sofort kamen mir die Geschichten von missglückten Outings in den Sinn und ich spürte, wie sich die Tränen in meinen Augen ansammelten.

„Ähm….“

Ich schreckte hoch. Steffi stand in der offenen Tür.

„Timo ist alles okay mit dir? Du wirkst so abwesend.“

Sie sah meine Tränen und setzte sich an die Bettkante.

„Was ist los? Hast du Schmerzen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Du willst nicht reden.“

Wieder schüttelte ich mit dem Kopf.

„Timo, ich möchte dass du weißt, dass du mit mir reden kannst, jederzeit und über alles ja?“

Ich murmelte ein leises, fast unhörbares Danke.

Nach einem aufmunternden Lächeln verabschiedete sich Steffi wieder und verließ das Zimmer. Ich war wieder alleine.

Erscheinungen – 20.Dezember – Gabriel

„Hallo Gabriel“

Die Stimmen dieser beiden Gestalten, die ich da verschwommen vor mir sah, klangen wie ein Singen. So rein, so sanft … so engelsgleich.

„Mit dieser Beschreibung kommst du den Tatsachen schon sehr nahe Gabriel.“

„Was? Ich habe doch kein Wort gesagt“

Die beiden kamen näher.

„Wer seid ihr? Was wollt Ihr?“

„Wir, Gabriel, sind Gesandte des Haniel. Wir sollen dir den Weg zu deiner Erlösung nahe bringen, Gabriel.“

„Wie… Erlösung? Wovon redet ihr da bitte?“

„Gabriel, wie du bereits gehört hast, hat dein Körper seine Lebenszeichen ausgehaucht.“

„Aber….“

Eine der beiden Gestalten trat nun vor mich und berührte meine Brust. Ich fühlte mich, als ob ich schwebte und Wärme durchströmte mich. Der Unbekannte nahm seine Hand von mir und ging einen Schritt zurück.

„Steh auf Gabriel“

Ich versuchte wieder mich aufzurichten und dieses Mal klappte es. Ich hatte keine Schmerzen beim Aufstehen. Ich ging im Kreis durch den Raum. Als ich zur Liege zurückkam, lag dort ein zugedeckter Körper. Ich war neugierig und hatte Angst zugleich, trotzdem ging ich zum Kopfende und schob das Laken zur Seite. Was ich sah, nahm mir die Luft zum Atmen.

„Was? Wie ist das möglich?“

„Gabriel, du weißt, wenn man stirbt, dann wird die Seele jedes Menschen erlöst und steigt in andere Dimensionen auf. Dimensionen, die die Vorstellungskraft des menschlichen Geistes übersteigen.“

„Ja ich habe davon einmal in einer Reportage gehört. Aber warum bin ich hier? Ich verstehe das nicht.“

„Das, Gabriel, ist etwas kompliziert. Dazu müsste ich ein wenig ausholen. Du kennst den Erzengel Gabriel, derjenige der einst beschlossen hatte, den Menschen nicht mehr zu dienen, sondern die Schwachen zu unterdrücken und sich als Führer auserkoren sah?“

Bei diesen Worten wurde mir der Hals ein wenig zugeschnürt. Ich hatte mich gegenüber Schwächeren auch nie nett gegeben, sondern sie unterdrückt und ausgenutzt, wie Gabriel.

„Ich sehe du, verstehst sehr schnell Gabriel. Dieser gefallene Engel Gabriel hat sich auch den fleischlichen Gelüsten hingegeben, wenn du weißt was ich meine.“

„Ich…du meinst aber jetzt nicht, dass……….dass“

„Doch Gabriel, du bist ein Nachkomme des Gabriel. Ein direkter Nachkomme, ein Nephilim.“

„Ein was?“

„Ein Nephilim, so werden die Kinder genannt, die aus Verbindungen zwischen Engel und Menschen entstehen.“

„Also ein halber Engel?“

„Ein halber gefallener Engel, ja.“

Das Ganze wurde mir langsam suspekt, aber tief in mir wusste ich, dass der Bote recht hatte.

„Gabriel wir wollen dir helfen wieder aufzusteigen und bei deinesgleichen zu sein und dich um etwas bitten.“

Herzlich und Hart – 20. Dezember – Timo

‚Verdammt was soll ich machen.’ Meine Gedanken kreisten dauernd um mein Outing. ‚Aber wie soll ich das anstellen.’ Meine Gedanken wurden jäh durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen.

„Ja bitte?“

Nur ganz langsam ging die Tür auf und ein blondes Haarbüschel kam zum Vorschein. Jonas. Mein Herz schlug schlagartig schneller. Wenn er so schüchtern tat, war er so niedlich.

„Hallo“ sagte er leise „darf ich?“

Ich musste lachen.

„Ja klar. Komm rein. Jetzt wo du beim dritten Mal reinkommen an einem Tag das erste Mal geklopft hast, werde ich dich nicht draußen stehen lassen.“

„Danke. Timo richtig?“

„Ja genau. Danke übrigens für die Zeitschriften Jonas.“

„Hab ich gerne gemacht. Weißt du, zu Hause, da bin ich allein und ich komm gern meine Schwester besuchen. Vor allem heute ich musste ihr unbedingt was erzählen.“

„Was denn, wenn ich fragen darf“

Jonas wurde still. Er wollte nicht so recht antworten.

„Sorry Jonas, ich wollte nicht so indiskret sein. Wenn du nicht willst, musst du es ja nicht sagen.“

„Danke. Du hast aber nen geilen Laptop, Timo. Hast du da auch coole Spiele drauf?“

Danke, das war es, was ich meinen Eltern heute noch hatte sagen wollen. Ich wollte Spiele haben. Naja, musste ich eben die zwei bis drei Tage ohne sie auskommen.

„Ne, leider nicht. Kann dir grad nur mit einem Film dienen. Ich wollte sowieso ein wenig gucken. Hast du Lust mit mir einen anzusehen?“

„Naja ich weiß nicht, also ich würde schon gern, weil ich mich ein wenig langweile. Aber Steffi mag das nicht, wenn ich in der Klinik rumlaufe und die Patienten ärgere, wie sie immer sagt“

„Jonas du ärgerst mich nicht, außerdem habe ich dich eingeladen, oder?“

„Ja schon. Ich sollte sie aber fragen.“

Ich dachte nicht lange nach und drückte den Alarmknopf für das Schwesternzimmer.

Schon nach kurzer Zeit ging die Tür auf und eine ältere mürrische Schwester kam rein.

„Äh wo ist Schwester Steffi?“

„Notfall. Was geben Sie sich eigentlich mit dem kleinen Perversling da ab. Ich hab dir schon oft genug gesagt, dass ich dich hier nicht rumlungern sehen will, also hau ab. Du gehörst in die geschlossene Anstalt. Raus hier, los.“

„Moment Schwester, das ist mein Besuch, ich hab ihn hierher gebeten da…..“

„Sie haben ja keine Ahnung. Raus mit dir, du Missgeburt. Geben Sie sich nicht mit so schwulem Ungeziefer ab.“

Fassungslos musste ich zusehen, wie Jonas in Tränen ausbrach.

„Jonas, du bist was? Du bist schwul?“

Leider erwischte ich aufgrund meiner Wut und Fassungslosigkeit über diese Schwester einen komplett falschen Tonfall. Jonas zuckte zusammen, fuhr herum und rannte los.

„Es tut mir leid“, schluchzte er beim Hinauslaufen.

Eine schwere Aufgabe –  20. Dezember – Gabriel

„Ihr denkt, dass ich dieser Aufgabe gewachsen bin?“

„Ja, wir sind überzeugt. Du hast dem Jungen schon mal beigestanden.“

„Ihr meint den Jungen aus dem Park oder? Wie geht es ihm? Ihr könnt keinen anderen meinen.“

„Wieso bist du so sicher Gabriel?“

„Nun ja, ich habe in meinem Leben viel Mist gebaut, und das im Park, das war das erste Mal, dass ich etwas Gutes für jemanden gemacht habe.“

„Das mag sein, aber du hast dich mit all deinen Möglichkeiten für ihn eingesetzt. Wir denken, du kannst ihm aus seiner Situation helfen.“

„Okay, ich werde mein möglichstes tun.“

Mit einem Mal waren die Boten verschwunden und ich stand mitten im Krankenhausflur. Ein ziemlich voll bepacktes Ehepaar kam den Flur entlang. Der Mann trug eine Tasche, in der sich vermutlich Klamotten befanden und die Frau hatte ein Plüschrentier unter den Arm geklemmt, sowie eine Plastiktüte in der Hand.

„Jetzt mach schon Marcus. Timo braucht doch die Sachen.“

„Ingrid stress‘ nicht rum, auf die fünf Minuten kommt es auch nicht mehr an.“

Sie steuerten genau auf mich zu, ohne langsamer zu werden. Wohin sollte ich jetzt bitte ausweichen. Gerade wollte ich mich bemerkbar machen, als die Frau einfach durch mich durch gelaufen war. Daran musste ich mich erst gewöhnen.

Ich folgte ihnen weiter durch den Flur zur Tür des Zimmers 2412 und rätselte dabei, nach welchem System hier die Zimmernummern vergeben waren. Aber es war ganz einfach. Die Zwei stand für den zweiten Stock, Abteilung vier, das war die Abteilung der Patienten, die bald entlassen werden konnten, Flur eins, Zimmer zwei. Ich stand etwas gedankenverloren im Flur als plötzlich ein Junge um die Ecke gelaufen kam. Ausweichen brauchte ich ja nicht, da der Junge, genau wie Timos Mutter einfach durch mich durchlaufen würde. Das dachte ich zumindest. Mit einer ziemlichen Wucht rammte mich der Junge und stürzte zu Boden.

„Kannst du nicht aufpassen, du Arsch“ herrschte er mich an.

„Sorry aber, kannst du mich denn sehen?“

„Klar oder denkst du, du bist ein Geist?“

Er war sehr aufgebracht und musste geheult haben. Die getrockneten Tränen bildeten eine kleine Salzspur auf seinen Wangen, seine Augen waren immer noch feucht. Er beschäftigte sich nicht weiter mit mir und lief weiter.

Meine Aufgabe war es, für Timo da zu sein, aber der Junge weckte mein Mitleid und meine Aufmerksamkeit. Ich beschloss, ihm zu folgen. Er war schon am Aufzug angekommen, als ich um die Ecke bog. Die Türen begannen sich zu schließen. Ich war zu spät. Ich musste an die billigen Hollywood Filme denken, in denen Engel sich nur mit Gedankenkraft an andere Orte versetzen konnten. Ich musste grinsen, als ich an die Eingangshalle direkt beim Aufzug dachte.

Im Bruchteil einer Sekunde war ich…in der Eingangshalle. Die Aufzugstüren öffneten sich gerade und der Junge stürmte hinaus ins Freie. Diesmal beschloss ich, ihm dicht auf den Fersen zu bleiben. Wer wusste schon, ob das Beamen immer funktioniert. Der Junge lief und lief. Nur einmal blieb er kurz stehen und drehte sich um, als ob er gemerkt hätte, dass ihm jemand folgte.

Ich versteckte mich hinter einem parkenden Auto. Warum sah dieser Junge mich? Die Boten hatten mir gesagt, dass niemand mich sehen würde, außer Timo. Der Junge lief weiter durch den Park zu einer kleinen Kirche. Er rüttelte verzweifelt an der Tür, doch diese blieb fest verschlossen. Durch ein Loch schlüpfte er durch den Zaun und lief geduckt, damit man ihn nicht sehen konnte, auf den Friedhof.

„Na dann mal los“, seufzte ich und schlüpfte ebenfalls durch das Loch.

Keine fünf Minuten später war der Junge an seinem Ziel angekommen, einem eher unscheinbaren aber sehr gut gepflegtem Grab. Er kniete sich hin und wühlte in seiner Jackentasche, aus der er eine kleine Kerze hervor holte, die er dann in die Laterne stellte. Verzweifelt versuchte er die Kerze anzuzünden, aber durch den Eisregen waren seine Streichhölzer vollkommen durchnässt. Er murmelte leise vor sich hin.

Gedanken des verlorenen Lächelns – 20.Dezember – Jonas

„Hallo Papa. Ich hoffe, dir geht’s gut. Mir geht’s grad gar nicht gut. Also mit Steffi schon, sie kümmert sich so lieb um mich und darum, dass es uns gut geht. Sie arbeitet hart aber ist immer da für mich. Du weißt ja, sie hat mein Outing sehr gut aufgenommen. Sie meinte ja, dass sie es vorher schon gewusst hat. Irgendwie hat aber die Oberschwester Hilde das heute auch mitgehört, als ich Steffi erzählt hatte, dass ich mich bei meiner Clique geoutet hatte. Ich weiß nicht wie sie das mitbekommen hat, vermutlich hat sie uns belauscht. Ich hab heute im Krankenhaus einen total lieben Jungen kennen gelernt, sein Name ist Timo. Ich dachte ich hab endlich einen Freund gefunden. Also einen, mit dem ich reden kann. Doch dann kam diese bescheuerte Schwester Hilde, hat mich zur Sau gemacht und auf das Heftigste beschimpft. Das tat so weh, Papa. Vor allem neben diesem Timo. Der hat das dann auch gleich gehört, dass ich schwul bin und war total geschockt und hat mich angeschrien, ob das wirklich stimmen würde. Und in den Mistkerl hatte ich mich verguckt. Das erste Mal in meinem Leben.

Diese blöde Kuh. Warum musste sie das tun? Warum hatte sie mich gerade vor Timo so beschimpft?“

Ich spürte einen warmen Luftzug neben mir durch den Eisregen und sah mich um. Niemand war hier. Nur ich. Ich ganz alleine.

Als ich wieder aufs Grab blickte, brannte die Kerze in der Laterne.

„Was? Hallo? Ist hier jemand?“

Keine Antwort.

Ein seltsamer Traum – 20. Dezember – Timo

Ich war wieder alleine im Zimmer. Jonas war heulend raus gerannt und dieses Monster von Schwester war auch verschwunden.

Hatte sie Recht? War Jonas echt schwul?

Er war so süß und ich hatte mich sehr über seinen Besuch gefreut. Hatte er nicht gemerkt, dass ihn gern hatte? Naja, wie sollte er. So wie ich ihn angeblafft hatte. Hatte ich damit alles kaputtgemacht? Mir beziehungsweise uns alle Chancen genommen? Ich hoffte er würde mich morgen nochmals besuchen kommen, dann würde ich ihn fragen. Ich machte das Licht aus und versuchte zu schlafen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit.

Ich schlief sehr unruhig und hatte wieder Albträume. Seit dem Überfall musste ich diese Situation fast jede Nacht im Traum neu durchstehen. Ich spürte, wie die Schläge der Angreifer auf mich einprasselten und schrie laut um Hilfe.

Plötzlich war es still und kein Schlag traf mich mehr. Wie in jedem Traum sah ich den weißgekleideten Jungen. Doch dieses Mal war es anders als sonst. Er war wieder von einem Lichtschein umgeben, doch dieses Mal kam das Licht nicht von der Straßenlaterne. Der Junge telefonierte auch nicht, nein, er kam auf mich zu. Es war mein Engel.

„Timo, keine Angst du bist in Sicherheit.“

„Aber wer bist du?“

„Mein Name ist Gabriel.“

„Wie der Engel? Bist du ein Engel?“

Er lächelte.

„Könnte man fast so sagen, ja.“

„Warum bist du hier, Gabriel?“

„Ich möchte dir zeigen, dass Wunder sehr wohl möglich sind.“

„Das glaub ich nicht, Gabriel. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Wunder gibt es nicht.“

„Das denkst du, Timo. Du hattest es immer gut. Aber es gibt so viele Menschen, denen es nicht so gut geht, nimm zum Beispiel mal Jonas.“

„Jonas? Du kennst ihn?“

„Ich habe heute einiges über ihn gelernt.“

„Was? Sag es mir bitte. Und sag, ist er auch…“

„Timo, es ist nicht an mir, dir das zu erzählen. Sieh es so: ich bin hier, um dir einen Weg zu zeigen. Gehen musst du ihn ganz alleine!“

„Wie meinst du das? Wie soll ich den Weg gehen? Ich weiß doch gar nicht wie!“

„Du wirst es merken, wenn es der richtige Weg ist. Achte auf ein Wunder und du wirst sehen.“

Mit diesen Worten war er verschwunden.

Wunder gibt es doch – 21. Dezember – Gabriel

Timo ging es gut und ich war mir sicher, dass er meinen Hinweis verstanden hatte. Auch ich fühlte mich gut, weil ich Timo etwas innere Ruhe hatte geben können.

Ich ging in ein leeres Zimmer, legte mich da aufs Bett und ließ meine Gedanken mit geschlossenen Augen schweifen. Dabei kam mir die süße Schwester in den Sinn, die ich mit Timos Eltern sprechen gesehen hatte. Die war echt süß. Mit diesen schönen Gedanken schlief ich irgendwann ein. Die zwei leicht erleuchteten Gestalten am Fenster bemerkte ich dabei nicht. Auch nicht, wie sie auf mich zukamen und mir über den Kopf strichen.

„Doktor, er kommt zu sich!“

Das war die Stimme der Krankenschwester.

„Hallo Gabriel, wie geht es dir?“

Die andere Stimme kam mir ebenfalls bekannt vor, ich hatte sie schon einmal gehört. Sie gehörte dem Arzt, Dr. Lopes.

„Wie fühlst du dich Gabriel?“

“Äh…keine Ahnung… lebendig, glaub ich. Und mir tut so ziemlich alles weh.“

„Das ist gut, dass du dich lebendig fühlst. Aber so schwer sind deine Verletzungen auch nicht, was mich, ehrlich gesagt, ziemlich verwundert.“

„Wieso? Was ist passiert?“

„Du hattest einen kleinen Unfall beim Müll rausbringen. So denke ich mir das jedenfalls. Die Sanitäter sagten, es sah aus wie auf einer Müllhalde.“

Sie konnten nur den Unfall beim Müll raustragen im Heim meinen.

„Ein Autofahrer hat auf der spiegelglatten Straße die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und ist direkt auf dich zu gesteuert. Der Fahrer konnte das Auto in letzter Sekunde von dir wegsteuern und ist in einen Baum gekracht. Dabei wurdest du, laut Polizei und Augenzeugen, vom Wagenheck gestreift und, salopp gesagt, übel flachgelegt.“

„Wie lang bin ich schon hier? Was hab ich?“

„Du bist jetzt knapp vier Stunden hier und seit deiner Einlieferung bewusstlos gewesen. Für so einen Unfall bist du nahezu unverletzt, es grenzt an ein Wunder. Dein  Knie ist geprellt, du hast einige Schürfwunden am ganzen Körper, aber ansonsten eigentlich gar nichts. Du wirst nur in den nächsten Tagen vermutlich noch ein paar blaue Flecken bekommen.“

„Ich dachte, ich wäre tot.“

„Gabriel, das dachten wir auch, als wir von dem Unfall gehört hatten. Da musst du einen sehr guten Schutzengel gehabt haben, oder es war einfach ein vorweihnachtliches Wunder.“

„Muss ich lange hier bleiben?“

„Bis morgen auf jeden Fall, zur Überwachung. Aber ich denke, in zwei Tagen kannst du wieder nach Hause.“

„Nach Hause“, murmelte ich. „Ich habe kein zu Hause.“

Funken sprühen und das Lächeln war verloren – 21. Dezember – Steffi

Der Doc sah mich an und ich verstand. Ich sollte mich ein wenig um den Süßen kümmern. Also den Patienten. Wie kam ich hier auf süß? Was ich gesehen hatte gefiel mir. Er war ziemlich gut trainiert, aber nicht zu viel, hatte schmale Lippen und wunderschöne blaue Augen. Ein Wahnsinn. ‚Hör auf damit Steffi’, zwang ich mich, mich zu beherrschen.

„…..da was?“

Er sah mich traurig an und griff sich ins Gesicht.

„Hab ich da was im Gesicht?“, fragte er erneut.

„Was? Nein, da ist nix.“ ‚Außer deinen wunderschönen Augen’, vervollständigte ich den Satz in Gedanken.

„Kann ich irgendwas für dich tun, Gabriel?“, fragte ich ihn stattdessen und konnte meine Augen nicht von ihm lösen.

Er lächelte das erste Mal. Ich konnte seine strahlend weißen Zähne sehen.

„Mal sehen, Schwester Steffi.“

Er kannte meinen Namen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ihn irgendjemand erwähnt hatte seit seinem Erwachen. Egal.

„Sag mal Steffi, darf ich aufstehen?“

„Ja, das ist kein Problem, du solltest aber vorsichtig sein, wegen deinem Knie. Anfangs solltest du keine allzu großen Spaziergänge alleine machen.“

„Das trifft sich gut. Ich möchte gerne in die Cafeteria und da brauch ich ja eine Begleitung oder?“, grinste er schon wieder.

„Ja, wäre schon besser“, stimmte ich ihm zu.

„Gut, dann lass uns gehen.“

Er war richtig süß, hatte ich das schon erwähnt?

Wir machten uns also auf den Weg in die Cafeteria und verbrachten dort sehr viel Zeit.

Gabriel hatte mir sehr viel von sich und aus seinem Leben erzählt. Wie er in dem Heim aufgewachsen war und wie sein Alltag so ablief. Gegen zehn Uhr abends wollte ich mich auf den Heimweg machen, da die Schicht wirklich sehr anstrengend gewesen war. Eigentlich hatte ich noch vorgehabt Timo zu besuchen, um zu sehen ob alles okay war, aber dafür war es schon zu spät. Jonas war auch nicht mehr da. Ich hatte ihn zuletzt gesehen, als er Timo die Zeitschriften brachte. Mein kleiner Bruder hatte sich richtig um diese Aufgabe gerissen. So fröhlich hatte ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. Seit einem Jahr nicht mehr.

Unsere Mutter war vor 8 Jahren mit ihrem Chef durchgebrannt und hatte meinen Vater, Jonas und mich im Stich gelassen. Anfangs war es sehr schwer gewesen, doch wir hatten es mit vereinten Kräften geschafft. Ich hatte aber bald bemerkt, dass meinen kleinen Bruder irgendetwas bedrückte. Er wollte nicht darüber sprechen. Es hatte sich dann wieder gebessert aber richtig glücklich wirkte er nicht. Schon gar nicht letztes Jahr im April.

Papa war ein gelber Engel. Ein Pannenfahrer für den ADAC. Manche würden sagen, das wäre kein Traumjob, aber er hatte sehr gerne Menschen geholfen und er konnte uns gut ernähren und, zugegeben, er hatte uns auch ein wenig verwöhnt.

An dem Tag, es war der sechsundzwanzigste April, als Jonas mit auf Arbeit war, passierte dann der Unfall. Mein Vater war gerade dabei einen Pannenwagen zu reparieren, als ein Brummifahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Er rammte das defekte Fahrzeug und überfuhr dabei auch leider unseren Vater. Jonas hatte alles mit ansehen müssen.

Die Rettungskräfte waren zwar sehr schnell vor Ort gewesen, aber sie hatten unserem Vater nicht mehr helfen können. Das war der Tag, an dem Jonas das Lächeln verlor.

Gestern sah ich es zum ersten Mal wieder. Sein Lächeln und seine funkelnden Augen, als er Timo begegnet war und von ihm gesprochen hatte.

Müde stieg ich die Stufen hoch in den zweiten Stock zu meiner kleinen Wohnung. Nach dem Tod unseres Vaters hatte ich mich dafür eingesetzt, dass Jonas bei mir bleiben konnte. Das Jugendamt hatte zwar erst seine Zweifel, ob ich mit achtzehn Jahren reif genug dafür wäre, aber wir hatten es geschafft. Ich wollte nicht, dass er in eine Pflegefamilie kommt. Die Wohnung, in der wir zuvor gewohnt hatten, mussten wir leider auch aufgeben, da sie mit meinen finanziellen Mitteln nicht zu halten gewesen war.

Jetzt hatten wir eine günstige Drei-Zimmer-Wohnung, wo jeder sein eigenes Zimmer hatte. Viel blieb nach Abzug der Miete nicht mehr übrig, aber wir kamen über die Runden. Luxus konnten wir uns nicht leisten mit meiner Ausbildungsvergütung und dem Kindergeld.

„Hallo Jonas, ich bin zu Hause.“

Keine Antwort.

Normal kam er immer an, wenn ich die Wohnung betreten hatte. Verwundert entledigte ich   mich meiner triefend nassen Jacke und hing sie im Bad auf. Nachdem ich Wasser für den Tee aufgesetzt hatte, ging ich in Jonas’ Zimmer. Sagen wir, ich wollte in Jonas’ Zimmer gehen. Die Türe war abgeschlossen. Das hatte er doch noch nie gemacht. Ich musste ihn morgen dringend fragen, warum er abgeschlossen hatte. Ich trank noch eine Tasse Tee und ging dann zu Bett. Im Traum kam immer wieder Gabriel auf und ich musste zugeben, ich fand ihn nach diesem Abend mehr als süß.

Sorgenvolle Mienen – 22. Dezember – Timo

Das war ein seltsamer Traum. Mein Engel war darin aufgetaucht. Ich war etwas verwirrt. Es war doch sowieso nur ein Traum. Die Monsterschwester kam ins Zimmer, knallte mir das Tablett auf den Tisch und blaffte nur „Frühstück“.

„Ihnen auch einen guten Morgen“, rief ich ihr nach

Sie war schon wieder weg. Ich genoss den heißen Tee und frische Brötchen. So eine Privatklinik hatte schon Vorteile.

Es klopfte.

„Herein“, rief ich mit halbvollem Mund.

Ich hatte so gehofft, dass es Jonas war, doch es war Steffi. Sie sah aber gar nicht so fröhlich aus wie sonst immer.

„Guten Morgen Timo.“

„Morgen Steffi, wie geht’s dir?“

„Gestern Abend super, heute nicht mehr. Jonas ist verschwunden.“

Ich verschluckte mich an meinem Frühstücksbrötchen.

„Wie verschwunden? Wann wo?“

„Ich weiß es nicht, Timo.“ Ihr kamen die Tränen, „Er ist das Wichtigste auf der Welt für mich. Gestern wurde es ziemlich spät hier. Ich hatte mich mit einem Patienten bei einem Kaffee verquatscht und kam erst sehr spät nach Hause. Als ich da ankam, war sein Zimmer verschlossen. Das hatte er noch nie gemacht. Und heute Morgen, als ich um sechs Uhr aufgestanden bin, war er weg. Er hat nicht, wie sonst immer, einen Zettel geschrieben, die Schultasche, Portemonnaie und Handy lagen im Zimmer. Ich mach mir große Sorgen.“

Das Telefon klingelte. Am Display sah ich die Nummer von zu Hause.

„Sorry ganz kurz, das sind meine Eltern“

Steffi nickte. Meine Eltern wollten mir Bescheid sagen, dass sie mich nicht abholen konnten und ich doch mit dem Taxi oder Bus nach Hause fahren sollte. Sie konnten es terminlich nicht schaffen.

„Ist okay, das schaff ich schon. Sei mir nicht böse Paps, ich kann grad nicht.“

„Okay Großer, dann bis nachher und danke für dein Verständnis.“

Ich legte den Hörer wieder auf.

„Also hier war Jonas nicht, Steffi. Das letzte Mal war er gestern Abend hier. Wir wollten uns einen Film am Laptop ansehen. Dann kam aber Oberschwester Hilde rein und hat ihn aufs Schlimmste beschimpft mit Missgeburt und einigen Sachen, die ich nicht gern wiederholen würde.“

Steffi sah mich geschockt an.

„Weißt du, weswegen sie ihn so fertiggemacht hat?“

Ich stockte. Konnte ich es Steffi sagen? Wusste sie, dass ihr Bruder schwul war? Ich entschied mich für das im Moment einzig Richtige. Die volle Wahrheit.

„Ja Steffi. Sie hatte ihn beschimpft, weil er schwul ist.“

„Diese dumme Kuh hat es also mitbekommen gestern.“

Ich atmete erleichtert auf, Steffi wusste es also.

„Was mitbekommen?“

Steffi sah mich an.

„Jonas kam doch gestern hier rein gestürmt wie wild. Bei mir hat er sich ja schon vor einem halben Jahr geoutet aber gestern hat er sich dann vor seiner Clique geoutet und die hatten es locker aufgenommen und super mutig gefunden und es hat ihn echt sehr gefreut. Es war ihm auch total wichtig. Und das hat er mir im Schwesternzimmer erzählt. Auf einmal stand Hilde in der Tür, tat aber so, als wäre nichts passiert.“

Ich sah sie besorgt an.

„Warum ist sie dann gestern Abend so ausgerastet?“

„Das wüsste ich auch gern. Vielleicht liegt es daran, dass sie von ihrem Mann verlassen wurde.“

„Wieso das denn?“

„Er war öfters hier, hat sich dann in den Zivi verknallt und sie verlassen.“

„Ist auch Scheisse aber sorry, da kann Jonas doch nix dafür. Aber ich kann vielleicht was für sein Weglaufen.“

„Wie meinst du das?“, fragte sie bestürzt.

Ich erzählte ihr, wie meine Reaktion war und, dass diese vermutlich total falsch bei Jonas angekommen war, obwohl ich das nicht so gemeint hatte.

Steffi nickte total bedrückt.

„Hey er wird sich melden. Vielleicht musste er einfach spazieren gehen um sich zu beruhigen, ich mache das immer so.“

„Ich hoffe, dass du recht hast Timo. Danke.“

Sie drückte mich herzlich.

„Du Steffi? Ich fahre dann ja mit dem Bus nach Hause und, naja, ich wollte mich bei dir für deine Pflege bedanken.“

Steffi lächelte mich bei diesen Worten zwar dankbar, aber sehr traurig an.

„Nichts zu danken Timo, kannst dich ja gerne mal melden. Du weißt ja, wo ich arbeite.“

„Mach ich, kannst dich drauf verlassen. Und wegen Jonas mach dir keinen Kopf, das wird schon wieder, glaub mir.“

„Ich vertrau dir jetzt einfach mal.“

„Schwester Stefanie, Sie sollen hier nicht sitzen und tratschen, sondern arbeiten. Sparen Sie sich Ihre privaten Unterhaltungen auf für Ihren Feierabend!“

Oberschwester Hilde brüllte durch die Tür ins Zimmer.

Steffi sprang auf und ging zur Tür.

Guten Morgen – 22. Dezember – Gabriel

Die letzten Tage hatte ich so viel erlebt, da wunderte ich mich auch nicht mehr, als ich zu der Erkenntnis kam, dass es die Liebe auf den ersten Blick doch gab. Steffi. Sie war traumhaft. Wir waren uns gestern auch viel näher gekommen. Sie hatte mir, der sie ganz frech in die Cafeteria „entführt“ hatte, den sie nicht kannte, ihre ganze Geschichte erzählt. Ich wusste über alles Bescheid und ebenso hatte ich ihr alles erzählt, einfach alles. Auch die ganzen negativen Sachen mit Gerichtsverhandlung und so. Ich wollte einfach von Anfang ehrlich sein. Sie hatte anders reagiert als die meisten Menschen, denn sie hat mir aufmerksam zugehört und mich nicht verurteilt, ist nicht auf Abstand gegangen. Wir saßen sehr lange in der Cafeteria. Der Chef musste uns dann sogar raus werfen. Man, hatte es mich erwischt.

Die Tür ging auf und Steffi kam mit meinem Frühstück herein.

„Guten Morgen Steffi, wie geht’s dir?“

Ich lächelte sie an, doch sie sah sehr traurig aus, nichts von dem Strahlen von gestern Abend war mehr in ihren Augen.

„Was ist los Steffi?“

Sie kam zum Bett, stellte das Frühstückstablett auf den Tisch und setzte sich auf die Bettkante.

„Jonas ist verschwunden. Er hatte sich gestern eingeschlossen, als ich nach Hause kam und heute Morgen, als ich wach wurde, war er weg, ohne Nachricht.“

Vorsichtig nahm ich ihre Hand und hielt sie. Dabei sah ich ihr tief in die Augen.

„Steffi, glaub mir, alles wird gut. Jonas wird nichts passiert sein. Ich bin ganz sicher.“

Leere Wohnung – 22.Dezember – Steffi

Das hässliche Klingeln des Weckers ließ mich aus den Armen von Gabriel hoch schrecken.

Ich wollte nach ihm sehen, doch ich lag allein im Bett. Es war leider nur ein Traum gewesen.

Mühsam schälte ich mich aus meiner kuschelig warmen Decke und tapste ins Bad. Erst nach einer ausgiebigen Morgendusche war ich wirklich wach. Nachdem ich den Wasserkocher eingeschalten hatte, ging ich zu Jonas‘ Zimmer und klopfte.

Keine Antwort.

Also öffnete ich die Tür und ging hinein. Das Bett war zwar zerknittert, aber er hatte nicht drin geschlafen. Er hatte nur darauf gelegen. Auf dem Schreibtisch lagen alle Schreibsachen kreuz und quer verstreut, auf dem Boden lagen einige Papierfetzen. Es roch auch irgendwie seltsam, irgendwie leicht verbrannt. In einem alten Blumentopf am offenen Fenster fand ich auch den Grund dafür. Er hatte tatsächlich irgendetwas darin verbrannt. Ich hob ein paar der Schnipsel auf, die noch halbwegs intakt waren und versuchte zu entziffern, was er darauf geschrieben hatte.

„ös, anken, ed, mo, ut, e G“

Aus diesen Wortfragmenten konnte ich nicht schlau werden und langsam überkam mich Panik. Nirgendwo gab es einen Hinweis, wo er stecken könnte. Keine Nachricht, gar nichts. Ich rannte in den Flur und schnappte mir das Telefon. Sofort hatte ich die Kurzwahltaste 1 gedrückt, für Jonas‘ Nummer. Freizeichen, Gott sei Dank. Ich war so fixiert auf das Freizeichen, dass ich das Summen in seinem Zimmer nicht mitbekam.

„ Hallohoooo hier ist Jonas.“

„Hallo Jonas, wo steckst du?“

„…ich bin grad mal nicht erreichbar. Tja so ist das Leben, wenn ihr dann anruft, wenn ich nicht da bin oder nicht telefonieren will oder mein Telefon irgendwo rumliegt oooooder wenn ich mal wieder meinen Pulli drauf geschmissen hab und gar nix mitkriegt. Jaa, Jonas der Chaot wartet auf eure Nachrichten nach dem Pieps. Ciaoi!“

„Verdammt Jonas, wo bist du? Bitte melde dich schnell. Ich mache mir große Sorgen.“

Ich legte auf und ging in mein Zimmer. Als mein Blick auf die Uhr fiel, erschrak ich. Ich hatte noch genau 20 Minutenum zur Arbeit zu kommen. Schnell zog ich meine Jeans und einen Pulli an. Mehr als meine Haare noch kurz kämmen war nicht drin. Selbst die Jacke warf ich während dem Lauf zur Bushaltestelle erst über.

Leider waren die Straßen aufgrund des Wetters wieder total dicht. Aus dem Grund kam ich auch satte dreißig Minuten zu spät. So schnell ich konnte, schlüpfte ich in meine Schwesternkluft, da ich heute für die Frühstücksverteilung zuständig war, die aber von Oberschwester Hilde schon begonnen worden war.

Dann konnte ich ja noch kurz zu Timo gehen und nachfragen, ob alles okay war und ob er etwas über Jonas‘ Verbleib wusste.

Er wusste leider auch nichts darüber, aber er hatte mir erzählt was gestern Abend hier geschehen war. Auch von seiner Reaktion wegen Jonas‘ Schwulsein hatte er mir erzählt. Er meinte, dass er sich so über die Schwester aufgeregt hatte, dass seine Frage falsch bei Jonas angekommen wäre. Er hätte absolut nichts gegen Schwule. Er machte mir Mut und war dabei echt überzeugend. Ich fühlte mich um einiges besser während dem Gespräch und war mir auch sicher, dass Jonas nichts passiert war.

„Schwester Stefanie, Sie sollen hier nicht sitzen und tratschen, sondern arbeiten. Sparen Sie sich Ihre privaten Unterhaltungen auf für Ihren Feierabend!“

Diese Oberschwester! Am liebsten hätte ich ihr wer-weiß-was an den Kopf geworfen, hatte es mir aber dann doch anders überlegt.

Seufzend ging ich also zur Tür, drehte mich aber an selbiger noch einmal um.

„Schade, dass du nicht schwul bist Timo.“

Schwester Hilde sah mich funkelnd an.

„Erst zu spät zum Dienst erscheinen und dann auch noch private Gespräche führen. Das werde ich mal dem Doktor erzählen. Ich hab immer gesagt, dass Sie nicht zu uns passen und besser etwas anderes machen sollten.“

„Das werden wir noch sehen. Meinem Gefühl nach ist hier eher eine Oberschwester ein Fall fürs Arbeitsamt,“ giftete ich zurück und ließ sie einfach stehen.

Die weitere Frühstücksausgabe verlief dann eigentlich ganz problemlos. Als letztes Zimmer war nun das von Gabriel dran und als ich dieses betrat, strahlte er mich sofort an. Er schien sich sehr zu freuen, mich zu sehen, merkte aber sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich erzählte ihm ohne Punkt und Komma alles, was passiert war, während er mir aufmerksam zuhörte. Als ich meinen Vortrag beendet hatte, nahm er meine Hand und beruhigte mich.

Als seine Hand die meine festhielt, wurde mir ganz warm und ich spürte, dass etwas in mir geschah. Ich blickte ihm lange in die Augen. Langsam beugte ich mich nach vorne. Mein Kopf kam seinem immer näher, bis sich schließlich unsere Lippen trafen.

Schlaflos – 22. Dezember – Jonas

Triefend nass kam ich zu Hause an. Steffi war noch nicht da. Entweder hatte sie noch so viel Arbeit oder sie traf sich endlich mal wieder mit einer guten Freundin. Oder sogar einem Typen? Mensch, das würde ich ihr doch so sehr gönnen. Der dürfte aber nicht zu gut aussehen, sonst müsste ich eifersüchtig werden. Obwohl, ich kannte ja einen Jungen, der zwar kaum zu toppen, aber leider nicht schwul war. Ich warf mich auf mein Bett und vergrub mein Gesicht in meinem Kissen.

„Jonas, Jonas, Jonas, warum verguckst du dich immer in Heteros?“

Diese Frage musste ich mir wirklich stellen, obwohl es bei Timo etwas anderes war. Ich hatte noch nie so viel Wärme in mir gefühlt wie in seiner Nähe, oder wenn ich an ihn dachte.

Ich hatte richtig Schmetterlinge im Bauch.

„Hmmm, wie ist das eigentlich, wenn einer der Schmetterlinge im Bauch verliebt ist? Hat der dann auch…’ Ich musste lachen. „So ein Unsinn kann auch nur mir einfallen.“

Ich döste ein wenig vor mich hin und wurde erst von der zufallenden Wohnungstür wieder geweckt. Steffi war zu Hause. Ich drehte mich um und schlief weiter.

Einige Zeit später wurde ich erneut durch ein diesmal leises Geräusch aufgeweckt. Es klang, als ob jemand ein Streichholz anzünden würde. Ich setzte mich auf und rieb meine Augen, mein Blick fiel auf meinem Schreibtisch, auf dem eine kleine rote Kerze in einer mit Tannenzweigen verzierten  Schale stehend vor sich hin brannte. Das war meine einzige weihnachtliche Dekoration im Zimmer.

Doch irgendetwas war anders. Das Fenster war plötzlich geschlossen und es war angenehm warm. Steffi konnte das nicht gewesen sein. Meine Zimmertür war doch abgeschlossen.

Um meine Vermutung zu bestätigen ging ich zur Tür. Wirklich, sie war abgeschlossen.

Seit ich wach war, hatte ich das Verlangen Timo alles zu sagen. Zu sagen, was in mir vorging.

Mein Blick streifte nochmals den Schreibtisch. Dort lagen normalerweise meine Schreibsachen wild durcheinander, doch anscheinend hatte ich sie ordentlich zurückgestapelt.

Ich setzte mich an den Tisch und begann zu schreiben. Ich wusste hinterher nicht, wie viele Briefe ich angefangen hatte. Wie viele Blätter ich zerknüllt oder zerrissen hatte.

Was hatte Papa mir einmal gesagt? ‚Entledige dich deiner bösen Gedanken. Wirf sie weg. Verbrenne sie.’

Ich griff ein neues Blatt Papier und schrieb meine Ängste und meine bösen Gefühle, sowie auch Erinnerungen darauf. Dann ließ ich meinen Blick suchend durch das Zimmer wandern. Auf dem Fensterbrett stand noch immer der Blumentopf meiner alten kleinen Zimmerpalme, die ich auf unerklärliche Weise umgebracht hatte. Ich schnappte mir den Topf, stellte ihn vor mir auf den Tisch und hielt das beschriebene Blatt an die Flamme. Nachdenklich sah ich dabei zu, wie es Feuer fing. Dann warf ich es in den Blumentopf. Ich fühlte mich tatsächlich etwas freier. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es halb drei Uhr nachts war. Aber egal, ich musste den Brief jetzt schreiben.

Fast zwei Stunden schrieb ich mir alles von der Seele. Ich schrieb über meine Vergangenheit, meinen Papa, über Steffi und mich und zum Schluss konnte ich nicht anders und gestand ihm, dass ich schwul war und mich in ihn verliebt hatte.

Ich war schon ziemlich müde, aber bevor ich mich hinlegte wollte ich noch ein kleines Weihnachtsgesteck für Papas Grab machen. Nach einer weiteren Stunde hatte ich auch diese Aufgabe erledigt. Jetzt war noch ein wenig Zeit zu schlafen. Ich entledigte mich meiner Klamotten und legte sie wie immer auf den Stuhl am Schreibtisch. Da es ja ziemlich kalt werden sollte, legte ich meinen Schal unter das Handy, weil ich den ansonsten sicher vergessen würde und kuschelte mich anschließend unter meine Decke.

An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken. Also beschloss ich, das Gesteck jetzt vor der Schule noch zu Papas Grab zu bringen. Ich zog mir meine Jeans und das Shirt an, darüber den weißen Pulli vom Vortag. Nachdem ich mir noch ein Glas Orangensaft aus der Küche geholt  hatte, schrieb ich Steffi einen Zettel:

Hey Steffi,

ich konnte nicht mehr schlafen. Ich bringe das Gesteck auf Papas Grab. Ich denke ich bin zum Frühstück wieder da. Ansonsten komme ich nach der Schule zu Dir.

Ich hab dich lieb

Jonas

Ich trank den Orangensaft aus und kippte mir dabei gleich ein paar Tropfen über den Pulli.

Etwas genervt wechselte ich noch eben den Pulli und schleuderte den schmutzigen Richtung Schreibtisch. Den konnte ich nachher auch noch zur Schmutzwäsche legen.

Ich zog mir auch die Jacke wieder an, steckte den Brief für Timo in die Jackentasche, packte das Gesteck und war schon auf dem Weg nach draußen, als mir der Schal einfiel. Also ging ich erneut zurück ins Zimmer, packte den Schal und war schon aus der Wohnung.

Durch meinen etwas hastigem Griff nach dem Schal hatte ich nicht gemerkt, dass mein Handy sowie der Zettel für Steffi vom Tisch gerutscht waren, gefolgt vom schmutzigen Pullover, der beides am Boden bedeckte.

Endlich einmal Glück – 22. Dezember – Gabriel

Nach einem scheinbar unendlich langen Kuss lösten sich unsere Lippen nur langsam voneinander.

„Steffi…….ich…“

Weiter kam ich nicht, denn sie verschloss meine Lippen erneut mit den ihren und es folgte ein weiterer langer Kuss.

„Gabriel, ich weiß es klingt vielleicht blöd, aber……“, begann Steffi

„..ich habe mich auch in dich verliebt, Steffi“, musste ich den Satz vollenden und war wahnsinnig glücklich.

„Das ist doch wohl die Höhe!“, keifte die Oberschwester plötzlich. „Schwester Stefanie, Sie kennen wohl gar keine Grenzen! Herr Doktor Lopes, sehen Sie sich das an. Eine Unverschämtheit, wie diese Person mit unseren Patienten rummacht.“

„Sie halten sich jetzt mal zurück Oberschwester und bewegen sich augenblicklich in mein Büro. Sie, Schwester Stefanie, würde ich auch bitten mitzukommen. Aber verabschieden Sie sich in Ruhe“

Oberschwester Hilde starrte den Arzt entsetzt an.

„Aber…“

„Ich hatte gesagt, Sie sollen in mein Büro. SOFORT!!“

Bei dem Tonfall zuckte sogar die Oberschwester zusammen und ging leise keifend los.

„Ihnen beiden darf ich wohl gratulieren, wenn ich das so sehe“, lächelte uns Doktor Lopes an.

„Da haben sich die Richtigen gefunden, denke ich. Schwester, Sie kommen dann bitte gleich nach ja? Tschüss Herr Berger, wir sehen uns nachher sicher nochmal.“

Steffi gab mir einen kurzen Kuss.

„Bis nachher mein Süßer. Ich hab dich wahnsinnig lieb.“

„Ich dich auch mein Schatz. Noch etwas Steffi, Jonas geht’s gut, glaub mir. Mach dir keine Sorgen.“

Sie lächelte, wir beiden wussten, dass ich recht hatte.

Endlich geht es raus – 22. Dezember – Timo

Hatte sie das eben wirklich gesagt? Hatte ich sie richtig verstanden?

„Schade, dass du nicht schwul bist Timo“, wiederholte ich den Satz leise, den ich verstanden hatte.

Worauf hat sie das bezogen? Warum sagte sie so was? Ich musste sie unbedingt fragen.

Der etwas gestresst wirkende Dr. Lopes kam durch die Tür gestürmt.

„Hallo Timo. Ich wollte dir deine Papiere und deine Rezepte geben für die Medikamente, die du nehmen sollst. Wenn es dir nicht gut geht melde dich bitte, ja? Es tut mir leid, aber ich hab noch ein dringendes Gespräch mit Oberschwester Hilde.“

„Mit dem unverschämten Drachen?“

Dr. Lopes, der bereits wieder auf dem Weg zur Tür gewesen war, drehte sich um und sah mich an.

„Wie meinst du das, Timo?“

Ich erzählte ihm kurz die Geschichte mit Jonas, die gestern vorgefallen war und wie sich Oberschwester Hilde aufgeführt hatte. Seine Miene verfinsterte sich zusehends.

„Also eigentlich wollte ich sie wegen etwas anderem sprechen, aber was du mir erzählt hast, werde ich hier nicht dulden.“

Er half mir noch kurz meine Tasche fertig zu packen und ich begleitete ihn auf dem Weg zum Aufzug.

Die Tür direkt neben dem Aufzug stand offen. Man konnte Oberschwester Hilde wieder rummeckern hören. Als sie Dr. Lopes sah, kam sie auf ihn zu, fuchtelte unentwegt mit den Händen und deutete ins Krankenzimmer. Der Arzt ging aber gar nicht erst auf sie ein, sondern schickte sie in sein Büro zu einer Unterredung, woraufhin sie weitermeckerte. Der zweiten Aufforderung von Dr. Lopes leistete sie dann endlich Folge, denn diese war in ein einem so barschen Ton, dass selbst Oberschwester Hilde sich nicht traute zu widersprechen. Der Doktor winkte mir noch einmal kurz zu und ging dann                        ins Zimmer.

Ich dagegen machte mich auf den Weg zum Ausgang. Beim Vorbeigehen konnte ich am Doc vorbei ins Zimmer sehen. Kurz erkannte ich Steffi, die sich über eine Person beugte. Sie hatte doch erwähnt, dass sie keinen Freund hatte. Naja, vielleicht hatte sie ein vorweihnachtliches Geschenk erhalten. ‘So ein Geschenk hätte ich auch gerne’, dachte ich. Beim Gedanken an die besagte Person wurde mir richtig warm.

Draußen erwartete mich wie immer eiskalter Regen. Ob das noch was wird mit den weißen Weihnachten? Ich konnte nicht recht daran glauben. Ich ging den kleinen Weg zur Straße.

Ingrid – Mutter auf Abwegen 21.12.2008

Das war wieder so typisch. Ich hatte einen wichtigen Termin und sollte dort meinen Kunden, einem alten Schulfreund, unterstützen. Er hatte eine Kindertagesstätte und ich sollte ihm das neue Design sowie die Werbekampagne präsentieren. Keine hundert Meter vor seinem Haus klingelte mein Telefon.

„Krist?“

„Hallo Ingrid. Toralf hier. Du, ich muss leider den Termin absagen. Wir haben hier echt ein Problem. Eine unserer Betreuerinnen hat von jetzt auf gleich gekündigt und ist gegangen. Jetzt hänge ich hier total in der Luft und muss gleich für sie einspringen.“

„Toralf, das ist ja kein Problem, wir können den Termin auch verschieben. Aber wieso geht die einfach? Das geht doch nicht. Hast du schon einen Ersatz gefunden?“

„Tja, sie kam an, gab mir die schriftliche Kündigung und die Krankmeldung dazu. Normalerweise hätte sie ja eine Kündigungszeit von 4 Wochen aber die 4 Wochen ist sie jetzt krank geschrieben. Ersatz ist leider auch nicht in Sicht. Darum werde ich mich auch erst nach Weihnachten kümmern können. Du bist mir wirklich nicht böse wegen dem Termin?“

„Aber nein, du kannst ja nichts dafür. Dann kann ich wenigstens in die Klinik fahren und Timo abholen. Er wird heute entlassen.“

„Dann kannst du meiner lieben Betreuerin sogar dankbar sein Ingrid“, lachte Toralf „du, sei mir nicht böse, ich muss wieder zu den Kiddies. Ich melde mich die Tage auf jeden Fall nochmal bei dir.“

„Alles klar. Bis dann und halt die Ohren steif!“

„Okay mach ich. Danke Ingrid. Ciao!“

Ich warf mein Handy wieder auf den Beifahrersitz und wendete nicht gerade vorschriftsmäßig den Wagen. Mit ein bisschen Glück könnte ich es noch rechtzeitig schaffen, denn Timo konnte nach der Visite gehen.

Keine zehn Minuten später bog ich in die Einfahrt der Klinik. Vor lauter ‘auf die Uhr sehen’ übersah ich meinen eingemummten Sohn, der ein paar Meter weiter an der Bushaltestelle wartete.

Um meinem Ruf als Frau gerecht zu werden, parkte ich den Wagen etwas schräg über zwei Parkplätze und lief hoch zu Timos Zimmer. Es war leer und wurde gerade sauber gemacht. Da war ich wohl zu spät dran. Also ging ich zurück zu Dr. Martin Lopes‘ Büro. Gerade als ich klopfen wollte, flog die Tür auf und eine hocherregte, etwas fülligere Schwester kam mir entgegen gestürmt.

„Das wird ein Nachspiel haben Doktor“, rief sie über die Schulter und war verschwunden.

Ich schob meinen Kopf in die offene Tür.

„Guten Morgen, Martin.“

Dr. Lopes stand am Fenster und sah nach draußen. Als er mich hörte, drehte er sich um.

„Hallo Ingrid, du willst Timo abholen oder?“ Er kam auf mich zu.

„Ja, eigentlich schon, aber ich denke ich bin zu spät.“

„Ja, er ist vor circa zwanzig Minuten gegangen.“

„Schade. Mein Termin hat abgesagt. Also bin ich schnell hergedüst, um ihn doch zu holen.“

„Dann kannst du jetzt sicher einen Kaffee vertragen oder? Ich brauche mindestens zwei, nach dem was hier heute schon los war.“

„Tja kann ich verstehen. Ich hab ja ein wenig was mitbekommen.“

„Wenn das bloß alles gewesen wäre“, seufzte Martin auf dem Weg zur Cafeteria

Gerechtigkeit siegt – 22. Dezember – Gabriel

Steffi kam nach ein paar Minuten wieder. Sie wollte mir erzählen, was im Büro ihres Chefs vor sich gegangen war. Dazu entführte sie mich heute in die Cafeteria.

Außer dem Kioskbetreiber war niemand hier, aber alles war richtig schön weihnachtlich dekoriert.

Ich war etwas überwältigt, denn bei uns im Heim gab es höchstens einen Weihnachtsbaum mit einer umgewickelten Lichterkette. Wir bestellten uns zwei heiße Kaffee. Der Kioskbetreiber bat uns schon mal Platz zu nehmen, er würde uns den Kaffee bringen, also suchten wir uns einen Platz aus. Dort nahm Steffi meine Hand.

Sie erzählte mir davon, wie der Chefarzt Dr. Lopes beim Gespräch explodiert war. Jemand hatte ihm von Oberschwester Hildes Beschimpfungen Jonas gegenüber erzählt. Der Chefarzt hatte der Schwester sehr eindringlich nahegelegt, sich bis Januar einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, da sie ab erstem Januar 2009 in dieser Klinik nicht mehr erwünscht und sie bis dahin suspendiert sei. Das wollte die Dame natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Sie hatte sich nicht einmal entschuldigt für ihr Verhalten. Nein, sie fand es angemessen und richtig. Da fehlten mir wirklich die Worte zu.

Die Tür ging auf und Dr. Lopes kam mit einer ziemlich gut gekleideten schwarzhaarigen Dame Ende dreißig herein. Er winkte uns sofort zu und auch die Fremde grüßte uns mit einem Nicken und einem warmen freundlichen Lächeln. In dem Moment kam endlich unser Kaffee. Der Besitzer entschuldigte sich, dass es etwas gedauert hatte, aber die Maschine hatte nicht so gewollt wie er.  Als kleine Entschuldigung servierte er uns eine kleine Schüssel mit Keksen und Lebkuchen.

Dann ging er zum Tisch von Dr. Lopes, um gleich wieder hinter seiner Theke zu verschwinden und die Kaffeemaschine erneut anzuwerfen. Ein wenig konnte ich hören, dass die beiden über den Vorfall im Büro sprachen, doch dann fiel immer öfter der Name ‚Timo’. Irgendwie kam mir der Name bekannt vor, aber woher?

First Contact – 22. Dezember – Ingrid

Martin erzählte mir genau, was im Büro vorgefallen war. Das war doch unglaublich, wie sich manche Menschen verhalten konnten. Der arme Jonas.

Ein schöner Name. Ich hatte Timo auch erst Jonas nennen wollen, aber irgendwie gefiel Marcus „Timo Krist“ besser.

Egal, was wohl in Jonas vorgehen musste, nachdem er so behandelt wurde? Wobei ich auch mit meinem lieben Sohn ein ernstes Wörtchen reden musste. Mein Mann und ich hatten ihn sehr offen und tolerant erzogen. Ich fragte mich, ob er wegen Jonas Homosexualität so nachgefragt hatte oder wegen der Schwester. Ich hoffte auf Letzteres, aber das konnte nur Timo aufklären. Wobei ich es mir auch kaum vorstellen konnte, dass er ein Schwulenhasser sein könnte. Immerhin sprachen einige Indizien dafür, dass er selber schwul war. Das aber würde ich ihn nie fragen. Er wusste doch auch, dass er mit allem zu Marcus und mir kommen konnte. Und wenn er schwul wäre, wäre es doch auch gut. Keine zickige Schwiegertochter. Bei diesem Gedanken musste ich lachen.

„Ingrid?.. Erde an Ingrid“, holte mich Martins Stimme aus meinem Gedankenexkurs zurück.

„Ja Martin? Entschuldige, aber ich hatte gerade mal wieder seltsame Gedankengänge und die waren etwas witzig.“

„Achso. Na bitte erzähl sie mir nicht. Deinen Gedankengängen kann ich sowieso nicht folgen.“

„Achja, die beiden Herrschaften da drüben, die kennen Timo auch.“

Ich sah zu dem sich küssenden Pärchen ein paar Tische weiter.

„Ja also die sind frisch verliebt, da dürfen sie das, oder?“ lachte Martin.

„Ja, auf jeden Fall. Aber dürfen das nur frisch Verliebte? Deine Frau wird sich bedanken.“

„Okay, der Punkt ging an dich. Das ist Schwester Steffi. Sie macht hier eine Ausbildung und hat sich viel um Timo gekümmert, außerdem ist sie Jonas‘ große Schwester, bei der er wohnt.“

Martin hatte vorhin erwähnt, dass Jonas nach dem Tod des Vaters bei seiner großen Schwester lebte.

„Und wer ist dieser überaus gut aussehende junge Mann bei ihr?“

„Das ist Gabriel Berger. Er hat Timo gerettet.“

Eiseskälte und warme Gedanken – 22. Dezember – Jonas

Es war noch dunkel, nur die Straßenlaternen spendeten ein wenig Licht und es regnete immer noch. Papa hatte mir früher immer gesagt, wenn es regnet, weinen die Engel, weil sie traurig sind, wenn die Sonne scheint dann lachen sie und wenn es schneit, sind es Freudentränen.

Wenn das so wäre, dann wollte ich nicht wissen was alles passiert war, dass sie seit vier Wochen weinten.

Ich spazierte Richtung Friedhof. Klar, um diese Zeit, es musste knapp fünf Uhr morgens sein, war er noch abgeschlossen. Doch ich hatte ja mein kleines Schlupfloch. So konnte ich immer zu Papa wenn ich wollte. Ich durfte mich nur nicht dabei erwischen lassen. Immer wieder kontrollierte ich, ob der Brief für Timo auch noch in meiner Tasche war. Den wollte ich ihm heute nach der Schule vorbei bringen. Ich hatte mir auch schon überlegt, wie er ihn bekommen sollte. Ich muss zugeben, ich war zu feige ihm den Brief persönlich zu geben. Ich würde eine Schwester, nur nicht die fette Kuh, fragen, ob Timo wach sei, und wenn er schläft, ins Zimmer schleichen, den Brief hinlegen und wieder hinaus gehen. Sollte er wach sein, würde ich eine der Zeitschriften nehmen, den Brief hinein legen, auf den ich in meiner schönsten Schrift seinen Namen geschrieben hatte und das Heft direkt vor seine Tür legen. So konnte ich sicher sein, dass er ihn erhalten würde. Gerne würde ich zwar sehen, wie er darauf reagieren wird, aber da hatte ich ehrlich gesagt zu viel Angst.

Ich war am Friedhof angekommen und schob dort vorsichtig das Gesteck durch das Loch im Zaun, um dann selbst hindurch zu klettern. Und wieder der Griff in die Jackentasche. Gut, der Brief war noch da. Ich nahm das Gesteck und ging zitternd zum Grab. Die Kerze von gestern trotzte dem Wetter und der Dunkelheit. Fast unnatürlich hell leuchtete sie in der Laterne. Sie schien auch kein Stück runter gebrannt zu sein. Ich platzierte das Gesteck auf dem von mir dafür vorgesehenen Platz, setzte mich neben das Grab und lehnte mich an den Grabstein, um meine Hände etwas an der Laterne zu wärmen.

Die Müdigkeit übermannte mich und ich schlief ein.

Ein neues Gefühl – 22.Dezember – Gabriel

Dr. Lopes und die Dame standen auf und kamen zu uns an den Tisch.

„Gabriel, Schwester Steffi, dürfen wir Sie kurz stören?“

Wir nickten beide. Die Frau kam um den Tisch rum und streckte mir die Hand entgegen.

Ich stand auf und ergriff sie.

„Also das ist…..“ weiter kam Dr. Lopes nicht, denn die Frau, die sichtlich nervös war fiel ihm ins Wort.

„Mein Name ist Ingrid Krist. Ich bin die Mutter von Timo, dem Jungen, dem du das Leben gerettet hast.“ Ihre Stimme wurde immer wackliger und leiser, sie ließ meine Hand los, umarmte mich und drückte mich fest an sich. Sie fing an zu heulen und brachte nur noch ein leises ‘Danke’ heraus.

Etwas überrascht von dieser Reaktion und davon, umarmt zu werden, legte auch ich die Arme um sie und hielt sie fest. Ich war überwältigt von den Gefühlen, die sich in diesem Moment, in dieser einfachen Klinik-Cafeteria, in mir ausbreiteten. Auch ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und ließ mich zum ersten Mal in meinem Leben fallen, ließ alles zu, was ich in den letzten Jahren in mich reingefressen hatte. Und das bei einer fremden Frau. Noch nie war ich so in den Arm genommen worden. Es dauerte noch einige Minuten, in denen absolute Stille herrschte. Es schien auch, als hätte der Regen in diesem Moment damit ausgesetzt auf das Dach zu trommeln, um die Stille nicht zu stören.

Frau Krist und ich hatten uns gegenseitig gestützt und nur langsam lösten wir uns voneinander. Noch immer rannen uns die Tränen die Wangen hinunter.

„Frau Krist, Sie müssen sich nicht bedanken. Ich konnte doch nicht zusehen, wie Timo überfallen wurde, ohne etwas zu tun.“

Sie nahm meinen Kopf in ihre Hände und drückte mir einen Kuss auf die Wange.

„Oh doch, das muss ich. Ich weiß nicht, wie ich das jemals gutmachen kann.“

„Das haben Sie schon gemacht mit ihrer Umarmung“, dachte ich

„Wie meinst du das Gabriel? Ich darf doch Gabriel sagen, ja?“

Ich erschrak.

„Äh ja sicher dürfen Sie das. Nichts, ich hatte nur laut gedacht.“

Ihre Augen fixierten mich, aber dieser Blick war warm, offenherzig und mit unbeschreiblichen Gefühlen verbunden.

„Sie haben mir mit Ihrer Umarmung gedankt Frau…..“

„Ingrid“

Ich blickte sie etwas verwirrt an.

„Ich dachte sie heißen Krist?“

Sie lächelte.

„Ja, das stimmt auch. Aber ich habe auch einen Vornamen und der lautet Ingrid.“

„Ich soll…ich darf Sie…“ stotterte ich.

„Dich, Gabriel.“

Dieses Mal verstand ich den Einwurf, auch wenn es einige Momente gedauert hatte.

„Ich darf dich duzen?“, fragte ich verwundert und glücklich. So etwas hatte ich noch nicht erlebt.

„Ja, außer du magst nicht. Aber dann sag ich auch Herr Berger zu dir.“

„Okay, okay Ingrid, wir bleiben beim du.“

Sie setzte sich neben mich und hielt meine Hand dabei immer noch fest.

„Gabriel, wie meintest du das gerade eben mit dem Satz, dass du für die Umarmung dankbar bist?“

Ich zögerte. Sollte ich ihr alles erzählen? Nein, die Frage stellte sich mir gar nicht. Ich konnte gar nicht anders.

„Ich glaube, den könnten Sie jetzt brauchen, und du auch, Schatz“, sagte Steffi als sie uns zwei Kännchen Kaffee hinstellte. Ich bekam auch noch einen Kuss, den Ingrid mit einem „süß“ kommentierte. Ich sah sie entschuldigend an, doch sie winkte ab.

„Es ist alles gut, Schatz, ich darf eben kurz nach Hause fahren und nachsehen, ob Jonas wieder aufgetaucht ist.“

„Mach dir keine Sorgen, Steffi. Ihm wird nichts passiert sein“, kam es gleichzeitig aus Ingrids und meinem Mund.

Wir sahen uns an und mussten grinsen.

„Bis dann“

Steffi winkte uns zu und ging. Dr. Lopes folgte Ihr nach einer kurzen Verabschiedung von Ingrid.

Ich schenkte inzwischen den Kaffee ein.

„Ein Schuss Milch und ein Stück Zucker, stimmt’s Ingrid?“

„Du hast eine scharfe Beobachtungsgabe Gabriel, Gott sei Dank“, wurde sie wieder ernster.

Der Kioskbesitzer brachte uns neue Kekse und Lebkuchen. Ich sah mir die Schüssel an.

Mir war vorhin gar nicht aufgefallen, dass die Kekse alle Engel waren.

„Möchtest du es mir erzählen Gabriel? Du musst nicht.“

„Ich weiß, aber ich möchte es. Also…ich habe mich bedankt für die Umarmung…weil…weil…ich habe so etwas noch nie erleben dürfen. Also Umarmung schon zum Beispiel von Steffi. Aber diese Umarmung war so wie, bitte nicht böse sein…sie war so, wie ich mir immer vorgestellt habe, wie es sich anfühlt von seiner Mutter umarmt zu werden.“

Ingrid sah mich gerührt aber auch etwas erschrocken an. Ich fing an, ihr alles zu erzählen, jeden einzelnen Tag erwähnte ich und sie saß neben mir, hielt meine Hand und nahm mich auch in den Arm, wenn ich nicht mehr konnte. Dieses Gefühl der ersten Umarmung war jedes mal wieder da und schien immer noch ein Stück intensiver zu sein.

Ich weiß nicht, wie lange wir gesprochen hatten, aber als ich mit meiner Erzählung fertig war, lag ich in den Armen von Ingrid und weinte. Ich hätte nie erwartet, dass sich, außer Steffi, jemand so für mich interessieren würde und so mitfühlend war.

Kalter Weg und warmes Licht – 22. Dezember – Timo

Es war viel zu dunkel für diese Uhrzeit, was vermutlich an den schwarzen Wolken lag, die den Himmel bedeckten und uns diesen eisigen Regen bescherten, der bei den Minusgraden, die hier herrschten, eigentlich schon Schnee hätte sein müssen. Dazu wehte ein eisiger Wind.

Ich wartete mittlerweile schon fünfzehn Minuten auf den Bus. Auf der von innen angelaufenen Anzeigetafel der Haltestelle stand: „Kommt in ca. 3 Minuten“. Das hatte dort aber schon gestanden, als ich hier angekommen war. Ein Zischen und Rattern war zu hören. Ich sah wieder zur Anzeige. Nun war sie vollkommen schwarz.

Na toll, also auf zum Fußmarsch, dachte ich mir, packte meine Tasche und ging los. Die Entscheidung, zu Fuß zu gehen war vermutlich die beste, denn auf den Straßen ging gar nichts mehr. Selbst auf den Gehwegen war es gefährlich rutschig. Es passierte mir nicht nur einmal, dass ich mich fast auf die Fresse gelegt hätte. Die Versuche stehen zu bleiben waren einige Male gekrönt von einem Stich im Brustbereich. War auch klar, den angeknacksten Rippen gefielen solche Tanzeinlagen nicht wirklich.

„Hey du Eisläufer“, hörte ich eine Stimme rufen.

Es war Katrin.

„Hey Süße, schön dich zu sehen“

„Das kann ich nur zurückgeben.“ Sie hielt mir einen Blumenstrauß vor die Nase.

„Der war als Besuchsgeschenk gedacht“, grinste sie „Dann werden sie jetzt dein eigenes Zimmer schmücken dürfen. Ich darf dich doch nach Hause begleiten, oder? Ich nehme dir auch die Tasche ab.“

„Aber nur, weil du die Tasche trägst“, grinste ich sie an.

„Okay du bist gesund. Lass uns gehen. Kannst mir ja mal erzählen, was eigentlich passiert ist.“

Ich fing an, ihr alles zu erzählen, von dem Moment an, wo wir das Cafe verlassen hatten über die Rettung und meiner Begegnung mit Jonas.

Katrin sah kurz auf die Uhr.

„Lass uns über den Friedhof gehen, ist kürzer. Du sollst dich ja sicher schonen.“

Das war mir nur recht, da ich schon etwas fertig war und mich hinlegen wollte. Ich hatte doch einiges an Kondition eingebüßt.

„Und dieser Jonas ist süß?“

„Ja total, er ist echt niedlich und ich würde ihn gern noch einmal sehen und ihm meine Reaktion erklären und, naja dass ich ihn süß finde und so. Du weißt ja.“

„Dich hat es aber ziemlich erwischt, würde ich mal behaupten.“

„Ja ich denke……“

Ich blieb stehen und blickte verwundert über den Friedhof. Ein paar Meter weiter war hinter einigen Grabsteinen ein Licht zu sehen. Warm wie von einer Kerze, aber auch etwas heller.

„Timo? Was ist los?“

„Sieh doch da, dieses Licht!“

„Da ist nichts. Timo, geht es dir nicht gut?“

„Doch, doch“, murmelte ich und ging auf dieses Licht zu.

Ich schlängelte mich zwischen den Gräber hindurch, um näher an das Licht zu kommen, welches, je näher ich kam, immer dunkler zu werden schien. Ein paar Meter vor mir sah ich dann eine Laterne, von der anscheinend auch das Licht gekommen war. Aber nun war es auch nicht heller als das der brennenden Kerze, die darin loderte. Während ich so nachdachte, fiel mir die zusammengerollte Gestalt, die neben dem Grabstein lag, auf. Ich kniete mich nieder.

„Katrin, da liegt jemand!“

Katrin kam sofort angelaufen. Ich versuchte den Puls zu fühlen, aber ein dicker Schal war um den Hals gewickelt. Ich drehte den Körper um und erschrak.

Es war… „Jonas!“

Katrin kam neben mir zu stehen.

„DER Jonas?“

Ich nickte

Leichte Rauchwölckchen stiegen aus seinem leicht geöffneten Mund, also atmete er auf jeden Fall noch. Ich rüttelte an seinem Ärmel.

„Aufwachen, Jonas. Bitte wach auf.“

Er öffnete ein wenig die Augen.

„K…k…k…kalt“, stotterte er bibbernd

Ich zog ihm seine durchnässte Jacke aus und streifte ihm meine über. Seine Jacke zog ich mir an.

„Kannst du aufstehen?“

Er nickte leicht. Oder war das Nicken auf sein Zittern zurückzuführen?

„Katrin hilf mir mal, wir stützen ihn und bringen ihn zu mir. Sind ja nur die paar Meter noch.“

Glücklicherweise war unser Haus keine fünf Minuten vom Friedhof entfernt.

Gemeinsam mit Katrin brachte ich Jonas hoch in mein Zimmer. „Wir setzen Jonas auf mein Bett!” Er zitterte wie Espenlaub.

„Timo bring mir mal zwei oder drei Decken und dann setz bitte Wasser auf für einen heißen Tee.“

Ich tat wie mir befohlen und holte zwei dicke Daunendecken aus dem Schlafzimmerschrank meiner Eltern, die ich zu Katrin brachte. Sie war gerade dabei, Jonas aus dem nassen Pullover zu pellen. Ich tapste runter in die Küche und setzte das Wasser auf, brachte es aber nicht fertig, darauf zu warten, bis es kochte. Ich musste unbedingt wieder nach oben und nach Jonas sehen. Oben angekommen, lag Jonas schon in die Decken gewickelt in meinem Bett. Er zitterte immer weniger, so schien es mir jedenfalls, und so setzte ich mich an die Bettkante, um ihn zu beobachten.

„Ich gehe mal nach unten und sehe nach dem Tee. Ach übrigens, keine Angst er ist nicht nackt, ich hab ihm ein Shirt und Shorts von dir angezogen“, meinte Katrin und ging aus dem Zimmer.

Ich war total verwirrt. Genau das, was ich mir gewünscht hatte, ist eingetreten. Jonas ist bei mir. Naja nicht genau. Mir wäre lieber gewesen, er wäre einfach so freiwillig und gesund bei mir aufgetaucht. Ich beobachtete ihn genau beim Schlafen. Er sah so süß aus und so friedlich. Seine Wangen hatten, vorhin schon fast blau, hatten nun eine rötliche Färbung. Seine Nasenflügel bewegten sich bei jedem Atemzug. Ich konnte nicht anders, strich ihm sanft über die Wange.

„Werd bloß bald gesund, Kleiner-“

Ich entledigte mich der nassen Jacke, was ich wegen meiner leicht eingeschränkten Beweglichkeit eher etwas tollpatschig machte. Dabei fiel ein Umschlag aus der Jackentasche.

Er war total durchnässt, aber ich konnte eindeutig meinen Namen erkennen, der in einer schönen geschwungenen Schrift darauf geschrieben war.

Katrin kam wieder ins Zimmer.

„Hier trink mal einen Tee.“

Bei diesen Worten hielt sie mir eine Tasse hin, die ich zwar nahm, aber gleich zur Seite stellte.

Sie sah mich fragend an.

„Was hast du da Timo?“

„Dieser Brief war in seiner Jackentasche. Er ist an mich adressiert.“

„An dich? Was steht drin?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe ihn noch nicht geöffnet.“

Mit einem Mal fiel mir Steffi ein. Sie machte sich so große Sorgen um Jonas und ich wollte sie unbedingt sofort anrufen. Ich zog das Rezept von Dr. Lopes aus der Tasche und suchte nach der Telefonnummer der Klinik. Als ich sie gefunden hatte, schnappte ich mir das Telefon und wählte die Nummer.

„Privatklinik Stiftsee, guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Hier ist Timo Krist. Ich müsste bitte äußerst dringend mit Schwester Steffi sprechen.“

„Es tut mir leid, aber Schwester Steffi hat gerade das Haus verlassen.“

„Kann ich sie sonst irgendwie erreichen? Bitte, es ist ein Notfall. Haben Sie vielleicht die Handynummer?“

„Nein, tut mir leid, aber ich bin nicht befugt, Ihnen die Nummer der Schwester zu geben.“

„Bitte, es ist wirklich ein Notfall. Es geht um ihren Bruder.“

„Ich darf Ihnen die Nummer nicht geben. Es tut mir leid.“

„Okay. Danke trotzdem“

Enttäuscht legte ich auf. Ich musste Steffi irgendwie informieren. Mein Blick streifte durchs Zimmer und blieb an Jonas‘ Klamotten hängen, die Katrin zum Trocknen über den Heizkörper gehängt hatte. Sofort sprang ich auf und griff nach der Hose. Irgendwo musste es sein. Ja hier! Ich hatte Jonas‘ Portemonnaie gefunden, welches ich öffnete und durchsuchte. Nach nur kurzer Zeit hatte ich gefunden, was ich suchte. Eine Notfallkarte.

„Bitte informieren Sie im Notfall Stefanie Stegberg unter folgender Nummer.“ Es war eine Handynummer. Schnell hatte ich sie eingetippt.

‘Bitte geh ran Steffi, bitte’.

Wundersame Zufälle – 22. Dezember – Ingrid

Ich war ehrlich tief bewegt und auch sehr erschrocken von Gabriels Geschichte. Es tat mir wirklich sehr weh, was diesem netten Jungen bisher passiert war. Ich begleitete ihn in sein Zimmer und versprach, ihn nochmals zu besuchen. Sehr nachdenklich ging ich zu meinem Wagen und machte mich auf den Heimweg. Dieses Wetter war wirklich unerträglich. Im Radio liefen die typischen Weihnachtslieder rauf und runter. Ich stand mehr als dass ich fuhr, und so dauerte es fast eine Stunde, bis ich zu Hause war. Dort zog ich meinen Mantel aus und packte meine Arbeitstasche ins Büro. Gerade wollte ich nach oben und nach Timo sehen, da kam mir Katrin entgegen.

„Hallo Katrin, was machst du denn hier?“

„Hallo Ingrid. Ich wollte heute Timo in der Klinik besuchen und hab ihn an der Bushaltestelle getroffen. Da hab ich doch glatt beschlossen, ihn nach Hause zu begleiten.“

„Das ist aber wirklich nett von dir. Wie geht’s ihm denn?“

„Ja gut aber..“

Ich sah Katrin fragend an.

„Ja?“

„Sagt dir der Name Jonas was?“, fragte mich Katrin

„Ja, das ist doch der Bruder von Timos Krankenschwester. Wieso fragst du?“

„Wir haben ihn am Heimweg gefunden. Er lag neben einem Grab und hat geschlafen. Wir haben ihn dann mitgenommen und ihn dick in Decken eingewickelt in Timos Bett gelegt, um ihn wieder etwas aufzuwärmen.“

Was war denn das heute nur für ein Tag? Dieses Jahr gab es nun wirklich keine stille, besinnliche Vorweihnachtszeit.

„Habt ihr Steffi schon informiert?“

Timo hatte im Krankenhaus angerufen, doch Steffi war nicht da. Er hat in Jonas’ Geldbörse eine Karte mit Steffis Nummer gefunden und ruft sie gerade an.“ Katrin war aufgeregt.

„Ich brauch jetzt erstmal einen Kaffee, möchtest du auch einen Katrin?“

„Ne danke. Ich bleib beim Tee, der ist schon fertig. Timo kommt auch gleich runter, wir wollten eine Kleinigkeit essen.“

„Das ist eine gute Idee. Ich mach mal ein paar belegte Brote. Hilfst du mir?“

Wie ich eigentlich nicht anders erwartet hatte, stimmte Katrin sofort zu und so gingen wir zusammen in die Küche, um Brötchen vorzubereiten.

Traurige Nachricht – 22. Dezember – Gabriel

Erleichtert ging ich in mein Zimmer zurück. Es hatte mir sehr gut getan, alles mal los zu werden. Ingrid war echt total nett. So wohl hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Ich hatte eine total süße Freundin und jetzt auch noch Ingrid kennen gelernt. Irgendwie zufrieden legte ich mich aufs Bett und sah ein wenig fern. Ich genoss den Luxus, der sich mir hier bot und zappte mich durch das ganze Programm. Vormittags lief nur leider nichts Interessantes.

„Hallo Gabriel“, kam es von der Tür.

Dr. Lopes kam hereingeschneit.

„Wie geht’s dir denn? Du hast dich ja ganz gut mit Ingrid verstanden, was ich so gesehen habe.“

„Ja, sie ist toll. So eine Mutter hätte ich gerne gehabt. Timo hat echt Glück. Sagen Sie, ist Steffi schon wieder da?“

„Leider nicht, aber bei dem Verkehr ist das kein Wunder. Die Straßen sind spiegelglatt und es geht fast nichts mehr.“

Ich nickte etwas traurig. Ich hätte sie so gerne bei mir gehabt.

„Ich schicke sie zu dir, sobald sie wieder da ist“, lächelte er mich freundlich an, „aber eigentlich bin ich da, um dir zu sagen, dass du morgen nach Hause gehen kannst.“

Ich schluckte. Klar freute ich mich, aus dem Krankenhaus zu kommen. Aber wieder ins Heim? Wenn ich daran dachte, wie schön ich es hier hatte und Leute, die mich anscheinend mochten und die es gut mit mir meinten und im krassen Gegensatz dazu das gefühlskalte Heim, wo es keiner von uns Jugendlichen wirklich gut hatte. Ich als einer der Ältesten sowieso nicht. Ich kam mir manchmal wie ein Haussklave vor. Aber das war wohl meine Welt. Ich war zwar in elf Monaten volljährig aber dann würde ich in derselben Anstalt, wegen meiner Vorgeschichte, in betreutes Wohnen kommen. Und da war leider auch die Heimleiterin die Betreuerin. Ich hatte einmal an einem besseren Leben schnuppern dürfen und musste wieder zurück. Aber eines wusste ich, ich würde alles tun, um es auch einmal so schön zu haben. Nicht nur, weil ich Steffi was bieten wollte, nein ich wollte das für mich. In diesem Moment schwor ich mir wieder, nie mehr Mist zu bauen und nie mehr mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten.

Im Augenwinkel konnte ich noch erkennen, wie Dr. Lopes mit einem besorgten Blick zur Tür hinaus ging und sein Handy aus der Tasche zog.

Leere Wohnung, erfreulicher Anruf – 22. Dezember – Steffi

Als ich zu Hause ankam, war die Wohnung leer. Jonas war nicht hier. Sein Zimmer war auch so, wie ich es verlassen hatte. Gerade wollte ich ein wenig aufräumen, die Papierfetzen wegwerfen und seinen schmutzigen Pullover, der am Boden lag, zur Schmutzwäsche packen, als ich aus dem Flur den Imperialen Marsch aus Star Wars hörte. Mein Handy. Das war sicher Jonas.

Ich rannte zur Kommode und nahm das Gespräch, ohne auf das Display zu sehen, an.

„Jonas?“

„Nein, hier ist Timo. Hallo Steffi.“

„Hallo. Timo ich mache mir Sorgen. Ich hab immer noch keine Nachricht von Jonas. Ich mach mir große Sorgen, dass ihm was passiert sein könnte.“

„Steffi, ich weiß wo Jonas ist“

„Wo ist er? Geht es ihm gut?“, mir kamen die Freudentränen.

„Ja Steffi, ich hab ihn beim Heimweg am Friedhof gefunden, er hat neben einem Grab geschlafen und hat wahnsinnig gezittert. Ich hab ihn mit nach Hause genommen. Da liegt er jetzt in meinem Bett unter mehreren Decken und schläft.“

„Timo….ich weiß nicht was ich sagen soll. Danke. Kann ich zu euch kommen und ihn abholen?“

„Klaro, komm vorbei. Wir wohnen im Fliederweg 8.“

„Ich bin gleich da Timo. Danke für deinen Anruf.“

Nachdem wir aufgelegt hatten, schnappte ich meine Jacke und stürmte aus der Wohnung zur nächsten Bushaltestelle, wo der Bus gerade zur Abfahrt bereitstand. Ich stieg vorne beim Fahrer ein.

„Ein Mal Erwachsener bitte.“

„Macht eins neunzig“, brummte der Fahrer

Ich griff in meine Jackentasche und fand meine Geldbörse nicht. Ich hatte sie oben im Flur auf der Kommode liegen lassen.

„Entschuldigen Sie, ich hab meine Börse vergessen, aber es ist sehr dringend. Können Sie mal eine Ausnahme machen?“

Der Fahrer sah mich mürrisch an.

„Was ist jetzt, Geld dabei oder nicht?“

Ich schüttelte meinen Kopf.

„Dann verlassen Sie den Bus bitte“

„Aber…..“

„Raus“, schnauzte mich der Fahrer an.

Wütend ging ich raus und warf dem Busfahrer in Gedanken noch ein paar Nettigkeiten an den Kopf. Jetzt hatte ich zwanzig Minuten Zeit um mein Geld zu holen und auf den nächsten Bus zu warten.

Ich ging hoch in die Wohnung und schnappte mein Portemonnaie. Verwundert stellte ich fest, dass die Tür war offen stand und es ein wenig verbrannt roch. Der Geruch musste von Jonas’ Papierverbrennungsaktion kommen, also ging ich in sein Zimmer und öffnete das Fenster. Beim Hinausgehen entschloss ich mich dann doch noch dazu, den Pullover gleich wegzupacken, denn irgendwie störte er mich, wie er da am Boden rumlag. Ich hob ihn hoch und erschrak. Unter dem schmutzigen Kleidungsstück lagen Jonas’ Handy und ein Zettel. Ich hob beides auf und las den Zettel:

Hey Steffi,

ich konnte nicht mehr schlafen. Ich bringe das Gesteck auf Papas Grab. Ich denke ich bin zum Frühstück wieder da. Ansonsten komme ich nach der Schule zu Dir.

Ich hab dich lieb

Jonas

Innerlich war ich sehr beruhigt. Ich hatte schon befürchtet, Jonas hätte sich etwas antun wollen und ist deswegen verschwunden oder wegen Oberschwester Hilde’s Aktion.

Ich packte den Zettel, Jonas Handy, auf dem nur Anrufe von mir verzeichnet waren und dieses mal auch meine Geldbörse ein und ging zur Bushaltestelle zurück. Auf dem Weg hatte ich mich gefragt, woher Timo eigentlich meine Telefonnummer hatte. Ich hatte sie ihm nicht gegeben. Vielleicht ja von Jonas.

Meine Gedanken wurden von dem in die Haltestelle einfahrenden Bus unterbrochen. Abermals stieg ich vorne ein.

„Guten Abend junge Dame, was darf es denn sein?“ begrüßte mich der etwas füllige Busfahrer.

„Ihnen auch einen guten Abend. Eine Erwachsenenkarte bitte“

„Sehr gerne.“

Er tippte auf seinem Minicomputer herum und eine Fahrkarte kam aus dem Ausgabeschlitz.

„Jetzt muss ich Ihnen einen Euro neunzig dafür abnehmen“, grinste der Fahrer wieder.

Ich gab ihm, in Ermangelung von Kleingeld, einen fünfzig Euro Schein.

Er sah mich etwas fragend, aber freundlich an.

„Also, den kann ich nur annehmen, wenn der Rest Trinkgeld ist“, lachte er.

Ich hatte Angst, auch hier wieder raus zu müssen.

„Ich habe es nicht kleiner, tut mir leid.“

„Ach was. Ich bin schon am Ende meiner Schicht und hab wirklich kein Wechselgeld mehr. Hier, nehmen Sie die Karte und Ihr Geld. Ich nehme Sie gerne so mit.“

„Wirklich?“, fragte ich nun doch etwas erstaunt.

„Aber selbstverständlich. Außerdem ist in drei Tagen Weihnachten. Also festhalten bitte, es geht los“, lachte er.

Entweder war er wirklich so freundlich, oder er freute sich einfach, dass er bald Feierabend hatte.

Ich fuhr 12 Stationen mit, bis ich raus musste und stand auf, um zur Tür zu gehen.

„Oh Sie wollen mich wieder verlassen? Sehr schade. Dann wünsche ich Ihnen ein wirklich frohes Fest und dass ihre Weihnachtswünsche wahr werden“, rief er mir nach.

„Danke, Ihnen auch. Ich hab nur noch einen Wunsch, aber dazu bräuchte ich, glaub ich, ein Wunder.“

„Weihnachten ist die Zeit der Wunder, meine Liebe“, er winkte und fuhr dann los.

Erleichterung – 22. Dezember – Timo

Die Erleichterung war Steffi anzuhören als ich ihr erzählt hatte, dass Jonas hier ist und es ihm eigentlich ganz gut ging. Aber ein klein wenig verwundert klang sie bei den Worten, dass er in meinem Bett lag.

Hinter mir raschelte es. Jonas hatte sich auf die andere Seite gedreht und sich dabei etwas abgedeckt. Ich setzte mich wieder neben ihn auf das Bett und deckte ihn richtig zu. ‚Schlaf gut, Süßer’, dachte ich. Sein Brief war vorhin auf das Bett gefallen, als ich sein Portemonnaie gesucht und so nahm ich ihn nun und öffnete den Umschlag. Ich atmete tief durch und begann zu lesen.

>>Lieber Timo,

du wirst dich sicherlich über diesen Brief wundern. Oder vielleicht nicht über den Brief, sondern dass ICH dir einen Brief schreibe.

Eigentlich wollte ich dir alles persönlich erzählen, doch ich traue mich nicht. Weißt du, ich fand dich schon nett, als ich das erste Mal so in dein Zimmer gedüst bin, um Steffi zu sprechen. Das war, weil ich megaglücklich war. Ich hatte mich kurz davor bei meiner Clique geoutet. Das ist mir wirklich sehr, sehr schwer gefallen, doch ich habe den Schritt gewagt und hab nur gewonnen. Sie haben es alle super aufgefasst. Ich denke nicht, dass du nachvollziehen kannst, wie sehr mich das belastet hat, meine Freunde anzulügen. Nicht eine Notlüge, nein, ich spielte ihnen vor, dass ich wer ganz anderer sei als ich wirklich bin.

Ich hatte zwar mit Steffi eine riesig große Stütze, aber ich hatte auch Angst meine Freunde zu verlieren. Ihr hab ich es als erstes erzählt und sie hat mich einfach in den Arm genommen und festgehalten.

Ich weiß nicht, ob du meine Gefühle verstehen kannst und wie gut es mir in den beiden Momenten ging. <<

Ich spürte einen dicken Kloß im Hals und musste schlucken. ‚Und ob ich dich verstehen kann, Jonas’.

Ich las weiter und erfuhr alles über sein bisheriges Leben. Er beschrieb mir seine Kindheit, wie die Familie von seiner Mutter sitzen gelassen wurde und von dem Unfall seines Vaters. Mir kamen die Tränen. Ich fragte mich schon, warum er mir das alles anvertraute. Mir, einem Fremden. Ich konnte nicht anders und gab ihm einen kleinen vorsichtigen Kuss auf die Wange.

>> Es gibt aber noch mehr, was ich dir erzählen will, Timo. Meine Vergangenheit hätte ich dir ohne zu zögern auch direkt erzählt, weil ich das Gefühl hatte, dir vertrauen zu können. Nur seit unserem letzten Treffen weiß ich nicht, wie du darauf reagierst.

Also, das, was die Oberschwester gesagt hat, stimmt. Ich bin schwul. Ich weiß nicht, wie du zu Schwulen stehst. Deine Reaktion gestern hat mir aber etwas Angst gemacht. Du klangst so… aggressiv. So verärgert. <<

Mensch was war ich gestern auch so unfreundlich. Das lag doch nur an der bescheuerten Schwester, die mich so aufgeregt hatte. Jonas, das hatte nichts mit deinem Outing zu tun. Im Gegenteil. Ich hatte doch befürchtet, mich verhört zu haben.

>>Mich vor dir outen in diesem Brief war nicht schwer, nein.

Ich habe mich gestern sehr wohl gefühlt bei dir. Ich habe die Zeit mit dir genossen wie noch nie mit jemandem. Was jetzt kommt, fällt mir schwerer. Ich würde es dir gerne sagen, und dir dabei in die Augen sehen, Timo.<<

Ich sah getrocknete Tropfen auf dem Brief. Jonas hatte beim Schreiben geweint.

>> Timo, in der ersten Sekunde, die wir uns in die Augen gesehen hatten, fühlte ich mich, als wäre in mir ein Vulkan explodiert. Wie eine Blume, deren Knospe sich öffnet, wie wenn sie nach Sonnenlicht und Wärme sucht und sie an einem ganz bestimmten Punkt gefunden hat. Timo, du hast mich total verzaubert mit deiner Art. Deine warme herzensgute Art mit Menschen umzugehen, deine wunderschöne Stimme, deine strahlenden Augen, in denen man ein Leben lang versinken möchte und deine sanften schönen Lippen, deine zarten Finger mit denen du mich berührt hast. Timo, ich habe mich in dich verliebt.

Bitte sei mir nicht böse.

Dein Jonas<<

„Jonas, ich könnte dir nie böse sein. Nicht dir. Nicht in den Menschen, der mein Herz so im Sturm erobert hat wie du. Ich habe mich auch in dich verliebt“, flüsterte ich ihm heulend zu und küsste ihn auf seine sanften warmen Lippen.

Ich legte den Brief zur Seite, kletterte unter die Decke, nahm Jonas in meine Arme und hielt ihn fest. Ich weinte und war unsagbar glücklich. Mit diesen Gefühlen schlief ich ein.

Süße Entdeckung – 22. Dezember – Ingrid

Ich saß mit Katrin am Küchentisch und trank Tee. Wir hatten uns über Timos und ihre Rettungsaktion unterhalten und über den Überfall. Ich hatte ihr auch von Gabriel erzählt. Dem Jungen, der Timo gerettet hatte. Ich konnte es mir nicht erklären, aber ich fühlte mich ein wenig verantwortlich für ihn.

Aber auch an Katrin fiel mir etwas auf. Ich hatte immer schon ein gutes Verhältnis zu ihr gehabt, doch irgendetwas verschwieg sie mir. Das hatte ich im Gefühl.

„Katrin, würdest du bitte mal hochgehen und Timo zum essen holen? Wenn Jonas auch wach ist, soll er doch auch gleich mitkommen.“

„Ja klar, ich eile“, entgegnete sie mir und war schon verschwunden.

Gerade als ich neues Teewasser aufgesetzt hatte, klingelte es an der Tür.

Als ich öffnete, begrüßte mich eine strahlende Steffi.

„Hallo Schwester Steffi“

„Hallo Frau Krist, das Schwester können Sie gern weglassen, bin ja nicht im Dienst.“

„Gut, gut dann lässt du das Frau Krist weg, Ingrid reicht. Komm doch bitte rein.“

„Danke sehr. Wissen Sie, wie es Jonas geht?“

„Also vorhin hat er geschlafen. Timo ist oben bei ihm. Katrin holt die beiden gerade zum essen. Du isst doch sicher ein paar Brote mit uns oder?“

„Da kann ich nicht nein sagen.“

Wie aufs Stichwort kam auch Katrin wieder nach unten, aber alleine.

„Wo sind sie denn?“

„Die beiden schlafen. Ich glaub, für Timo war es auch etwas viel heute.“ Katrin wirkte etwas nervös.

„Darf ich trotzdem kurz zu Jonas?“, fragte Steffi.

„Sicher doch. Katrin, zeigst du ihr, wo Timos Zimmer ist?“

Während die beiden hochgingen, füllte ich Tee in eine Thermoskanne, nahm einen Teller mit Broten und einen mit Keksen und ging auch nach oben. Die Tür war nur angelehnt und ich konnte die beiden Mädels kichern und flüstern hören.

Als ich das Zimmer betreten hatte, waren Katrin und Steffi schlagartig still.

Katrin sah erst auf das Bett und dann mich verunsichert an.

„Du Ingrid. Ich wollte es eigentlich nicht tun, aber ich glaub ich sollte dir da eben was erklären“, fing sie an.

Ich trat näher zum Bett und sah dort einen hübschen Jungen zusammengerollt unter der Decke. Hinter diesem Jungen, der Jonas sein musste, lag Timo eng angekuschelt unter der Decke. Seine Arme waren um Jonas gelegt, als wollte er ihn für immer festhalten und beschützen. Ich freute mich in diesem Moment sehr. Timo wirkte so glücklich. Weihnachten, das Fest der Liebe. Hier war der Beweis.

„Ingrid….“

„Lasst uns runtergehen, damit die beiden in Ruhe schlafen können.“ Ich drehte mich noch mal um.

„Sind sie nicht süß?“

Steffi und Katrin antworteten mit einem Lächeln und wir gingen nach unten.

Erwachen – 22. Dezember – Jonas

War das ein schöner Traum, dachte ich mir. Mein Timo sagt mir, dass er sich in mich verliebt hat, küsst mich und kuschelt sich an mich ran. Aber wenn ich jetzt die Augen aufmachte, würde ich wieder in meinem kleinen Zimmer ganz alleine im Bett liegen. Ich spürte immer noch, wie Timo im Traum seine Arme um mich gelegt hatte und wie er seinen warmen Atem gegen meinen Nacken hauchte.

Da ich ja sowieso keine Wahl hatte öffnete ich die Augen. Wo war ich denn hier gelandet?

Ein großes helles Zimmer, wunderschön eingerichtet. Vor mir auf dem Bett lag ein Zettel. Ich nahm ihn.

>>Lieber Timo,

du wirst……….<<

Wie kam mein Brief hierher? Ich wollte mich aufsetzen, doch da merkte ich, dass wirklich jemand seine Arme um mich geschlungen hatte.

„Ruhig mein süßer Schatz, lass uns noch ein wenig schlafen bitte. Bin noch nicht so fit.“

Das war Timos Stimme! Ich drehte mich um und tatsächlich. Timo lag von hinten an mich gekuschelt da und hielt mich fest.

„Timo? Timo!?“

„Was ist, Jonas?“ Er klang, selbst wenn er verschlafen war, richtig niedlich.

„Was ist hier passiert? Wie komm ich her? Und wie…“

Er streckte sich und gähnte.

„So viele Fragen und kein guten Morgen Kuss?“

„Guten Morgen Kuss? Du willst einen Kuss von mir?“ Ich war noch immer durcheinander.

„Sicher will ich das“, grinste er mich an „aber ich glaube ich sollte dir wirklich erklären wie du hergekommen bist.“

„Also, das hier ist mein Reich, mein Zimmer. Meine beste Freundin und ich haben dich hierher gebracht.“

Ich erzählte ihm, wie wir ihn am Friedhof gefunden und nach Hause gebracht hatten und, dass ich auch Steffi informiert hatte.

„Und noch etwas muss ich dir erzählen Jonas. Beim Aufhängen deiner Jacke ist ein Brief aus deiner Tasche gefallen. Ich habe ihn gelesen.“

Jonas zuckte kurz zusammen. Ich legte meine Arme wieder um ihn.

„Jonas, ich möchte mich für mein Verhalten im Krankenhaus entschuldigen. Ich war so wütend, wie die Oberschwester dich behandelt hat, dass ich mich bei der Frage, ob du wirklich schwul bist, total im Ton vergriffen habe. Ich wollte doch einfach nur sicher gehen.“

„Sicher gehen? Im Bezug auf was?“, fragte er leise

„Ich wollte wissen, ob du wirklich schwul bist. Ich hatte es doch so gehofft.“

„Du…..du hattest gehofft, dass ich schwul bin? Wirklich?“

„Ja wirklich.“ Er sah so verdammt süß aus.

„Du bist mir nicht böse?“

„Dir könnte ich niemals böse sein. Ich kann dem Menschen, den ich liebe, nicht böse sein.“

„Du… du….“

Bevor er weiterreden konnte verschloss ich seine Lippen mit einem sanften zärtlichen Kuss.

Es war, als würden mich tausend Blitze durchströmen, als würde ich schweben.

„Ich liebe dich Jonas!“

Er sah mir tief in die Augen und aus seinem Lächeln wurde ein Strahlen, das alle Mauern, alle Wolken durchbrechen würde.

„Ich liebe dich auch Timo“

Der Schwiegersohn – 22. Dezember – Ingrid

Wir saßen zu dritt in der Küche.

„Du wusstest es schon, Katrin?“

Sie sah mich etwas ertappt an und nickte.

„Ja, ich wusste es seit dem Tag, als er überfallen wurde. Kurz vorher hat er es mir erzählt. Das war auch der Grund, warum er so zugerichtet worden ist.“

Ich sah sie erschrocken an. Katrin erzählte mir, wie der Überfall aus Timos Sicht vor sich gegangen ist. Ich war wirklich geschockt, aber auch beeindruckt von Gabriels Mut, Timo in der Situation zu helfen.

Auch Steffi war sichtlich beeindruckt, selbst wenn sie etwas betrübt wirkte. Als ich sie darauf angesprochen hatte, rückte sie nur zögerlich mit der Wahrheit raus. Sie machte sich große Sorgen um Gabriel. Er hatte es ihm Heim wirklich schwer und er bekam auch keine Unterstützung bei seiner Suche nach einem Ausbildungsplatz.

„Was möchte er denn machen Steffi?“

„Er wollte immer Krankenpfleger oder Einzelhandelskaufmann werden. Hauptsache, er kann mit Menschen arbeiten. Ein einfacher Bürojob oder auch in einer Fabrik, das wäre nichts für ihn.“

„Würde es ihm Spaß machen, mit Kindern zu arbeiten? Sozusagen als Kinderbetreuung?“

„Ja, das würde ihm sicher Spaß machen, doch wer nimmt ihn schon. Immerhin ist er ja vorbestraft.“

Mir kam mein Gespräch mit Toralf in den Sinn.

„Ich werde mich auf jeden Fall einmal umhören, wenn das für Gabriel und dich okay ist.“

„Ja, auf jeden Fall.“

Ich trank den Rest meines Kaffees aus.

„Ich denke, dieses Jahr wird das Weihnachtsfest bei uns etwas größer ausfallen als sonst. Steffi, was hältst du davon, wenn du und Gabriel mit uns das Weihnachtsfest feiert? Jonas wirst du dann aber auch mitnehmen müssen, sonst würde Timo unglücklich sein.“

„Ja genau und das werde ich nie mehr zulassen“, ertönte es hinter mir.

Wir drehten uns alle um zur Tür. Da standen Timo und Jonas, wobei Letzterer, vermutlich aufgrund seiner Aussage, einen hochroten Kopf bekommen hatte.

„Meinst du das ernst Mum?“

 

„Ja, mein Kleiner, auf jeden Fall.“ Ich stand auf, ging zu ihm und nahm ihn in den Arm.

„Das heißt, du hast kein Problem damit, Mum?“ fragte er leise.

„Ach Unsinn, wieso sollte ich denn, Timo. Ich liebe dich so sehr und mir ist wichtig, dass du glücklich bist.“

Timo schluckte. Seine Augen wurden leicht feucht. Ich ließ ihn los und wandte mich Jonas zu.

„Du bist jetzt also derjenige, der meinen Sohn so glücklich macht? Hallo Jonas.“

Er streckte mir die Hand entgegen.

„Hallo Frau Krist.“

Ich nahm ihn einfach in den Arm.

„Willkommen in der Familie, Jonas. Einen kleinen Tipp hätte ich aber gleich noch für dich. Wenn du eine liebe Schwiegermutter haben willst, nennst du mich Ingrid, wenn du ein böses Schwiegermonster willst, nennst du mich Frau Krist.“

Wir brachen alle in Lachen aus.

„Was ist hier denn los“, unterbrach uns die Stimme meines Mannes.

„Hallo Marcus“, begrüßte ich ihn, wie immer, mit einem Kuss.

„Na, hier ist ja eine gute Stimmung. Gibt’s was zu feiern?“, blickte er fragend in die Runde

Ich konnte Timos Nervosität förmlich spüren, also stellte ich mich zu ihm und nickte ihm aufmunternd zu. Seine Hand suchte die von Jonas, der sich nun auch neben ihn gestellt hatte.

„Naja Paps eigentlich schon. Ich hoffe, du siehst das auch so.“

„Hmm, im Moment sehe ich die drei, gerade eben noch sehr aufgedrehte, Frauen etwas ruhig und nervös rumstehen. Außerdem steht da ein sehr ansehnlicher hübscher junger Mann neben dir und du hältst seine Hand.“

„Äh…ja. Also das ist Jonas und Jonas…. Also Jonas ist mein Freund. Paps, ich bin schwul.“

„Na, dann gratuliere ich euch beiden. Willkommen bei uns Jonas. Ingrid, hol mal eine Flasche Sekt, das müssen wir doch feiern oder?“

Kaum hatte Marcus ausgeredet, als er auf Timo und Jonas zuging und beide in den Arm nahm. Er sah mich an.

„Das wird dieses Jahr eine größere Feier an Weihnachten, oder?

Ich nickte, während ich den Sekt in die Gläser goss. Wir stießen an und Timo erzählte uns die Geschichte der beiden und nun auch, warum er überfallen worden war.

Steffi musste sich dann schon wieder verabschieden, da sie ja noch arbeiten musste, genau wie Katrin, deren Schicht in der Videothek bald begann.

Timo wollte ebenfalls ins Krankenhaus. Er wollte den Jungen kennenlernen, der ihn gerettet hatte und sich bei ihm bedanken. Jonas musste auch los, denn er wollte noch ein paar Geschenke kaufen gehen. Immerhin war in zwei Tagen Weihnachten.

Wir hatten ausgemacht Timo und Steffi ins Krankenhaus zu fahren, aber zuvor musste ich noch ein paar Worte mit Marcus reden. Ich erläuterte ihm meine Gedanken und meine Idee. Er war sofort dafür zu haben. Wir führten ein paar Telefonate, die überaus positiv verliefen. Eines davon war mit Dr. Lopes.

Die Weichen waren gestellt…

Timo

Da meine Eltern noch etwas sehr dringendes zu besprechen hatten, vermutlich über Weihnachtsgeschenke, machte ich es mir mit Steffi in der Küche gemütlich.

„Timo?“

„Ja?“

„Es freut mich, dass Jonas dich als Freund hat. Ich hatte echt schon Angst, dass du hetero bist“, grinste sie.

„Ich weiß Steffi, ich hatte den Satz im Krankenhaus sehr wohl gehört.“

Sie wurde ein wenig rot.

„Ich finde es toll, dass mein kleiner Bruder glücklich verliebt ist, jetzt brauch ich kein schlechtes Gewissen mehr haben.“

„Schlechtes Gewissen? Warum? Hattest du Angst, er denkt, du hast keine Zeit mehr für ihn, beziehungsweise du liebst ihn weniger, wenn du einen Freund oder eine Freundin hast?“

Sie nickte. „Einen Freund Timo, einen Freund.“

Wir mussten lachen.

„Das ist ein Patient von dir, oder? Ich hab heute Morgen durch die offene Tür gesehen, dass du jemanden geküsst hast.“

„Genau, ein Patient. Aber du kennst ihn.“

„Ich kenne ihn? Woher das?“

„Kennen ist zu viel gesagt. Ihr seid euch schon einmal begegnet. Am Tag deines Überfalls. Ohne Gabriel wärst du jetzt nicht hier und Jonas nicht so glücklich.“

Gabriel, ein schöner Name. Ich erinnerte mich an meine Gedanken und Gefühle, als ich ihn nach dem Überfall gesehen hatte. Als ich dachte, er sei ein Engel.

„Engel Gabriel“

„Was? Wie meinst du das Timo?“

Ich erzählte Steffi von der ersten Begegnung und dass ich ihn für einen Engel gehalten hatte. Genauso wie von meinem Traum.

„Das ist ja echt außergewöhnlich, aber er ist ja ein Engel, meiner“, kicherte Steffi.

„So die Herrschaften, seid ihr fertig? Wir können dann los.“

Mein Paps spielte jetzt unseren Chauffeur. Beim Hinausgehen nahm mich meine Mutter kurz zur Seite.

„Timo, wir sind sehr glücklich, dass es dir gut geht. Jonas ist ein wirklich netter Junge. Ich sage dir das, weil wir genau dieser Meinung sind, aber auch aus einem anderen Grund.“

„Wieso Mama, was ist los?“

„Genaueres möchten Paps und ich dir erst heute Abend sagen, nachdem wir im Krankenhaus waren. Es ist uns sehr wichtig. Aber du brauchst keine Angst haben. Es ist nichts Schlimmes.“

„Okay Mum. Jetzt hast du mich mal wieder verwirrt.“

Was mochte das Wichtige denn wohl sein? Ich hatte die leise Vermutung, dass es etwas mit dem Krankenhaus zu tun hatte.

Die Fahrt ging ganz gut. Das Wetter hatte sich gebessert. Es war zwar immer noch ziemlich dunkel von den Wolken und eisig kalt, doch der Eisregen hatte nachgelassen.

Kurz vor der Klinik bat ich meinen Vater noch einmal anzuhalten. Ich hatte einen Blumenladen erspäht, in welchem ich einen großen gemischten Strauß kaufte. Ich konnte doch nicht mit leeren Händen bei Gabriel auftauchen.

Gleich neben dem Blumenladen war ein kleiner Stand aufgebaut, an dem ein Kindergarten Dosen mit selbstgemachten Plätzchen verkaufte. Auch hier schlug ich zu. Kekse mochte er sicher.

Fünf Minuten später waren wir in der Klinik und Steffi zeigte mir Gabriels Zimmer. Meine Eltern hatten wieder etwas sehr wichtiges zu besprechen und seilten sich ab.

Nun stand ich vor der Tür und bekam es nun doch ein wenig mit der Angst zu tun. Sollte ich einfach reingehen mit einem: ,Hi ich bin Timo, du hast mich gerettet. Danke dafür‘? Nein, das wäre doch etwas seltsam.

Ich klopfte.

„Herein“, hörte ich seine Stimme rufen und so öffnete ich langsam die Tür. Ich atmete tief durch und ging ins Zimmer. Ohne es zu wollen, versteckte ich mich hinter dem Blumenstrauß.

„Guten Abend“, stammelte ich.

„Guten Abend auch. Aber wer bist du? Ich sehe nur Blumen.“

„Mist, sorry. Ich bin Timo. Timo Krist. Du bist mein Engel….also mein rettender Engel.“

Ich hatte mich noch nie so peinlich aufgeführt wie gerade eben.

„Hallo Timo. Ich bin Gabriel. Es freut mich, dass du mich besuchen kommst. Aber woher weißt du denn, dass ich hier bin?“

Ich stellte die Blumen in eine leere Vase und die Keksdose drückte ich ihm in die Hand.

„Deine Freundin Steffi hat es mir gesagt. Sie war bei mir, weil ich Jonas, also ihren Bruder gefunden hatte und der bei mir war. Als sie hörte, dass ich meinen Retter besuchen will, hat sie mir gesagt, dass du das bist. Ach, das ist alles ein wenig kompliziert. Bevor ich dir das erzähle, wenn du es überhaupt hören willst, möchte ich mich bei dir bedanken, Gabriel. Ich weiß, ein paar Blumen und Kekse können nie genug Dank sein dafür, dass du mir das Leben gerettet hast, aber ich bin dir unendlich dankbar, wirklich.“

„Das habe ich gern gemacht. Es war die erste richtig gute Tat, die ich je begangen habe. Ich mach dir ein Angebot. Du erzählst mir diese so komplizierte Geschichte und dann erzähle ich dir meine. Okay?“, sprach er lächelnd.

Ich erzählte ihm alles, was vorgefallen war, seit ich in der Klinik aufgewacht war. Nur ein paar kleine Details ließ ich aus, zum Beispiel, dass Jonas und ich ein Paar waren. Er hörte gespannt zu.

„Lass mich raten. Jonas und du, ihr seid jetzt ein Paar oder?“

„Ja, sind wir. Meine Eltern wissen es auch schon.“ Ich bekam wieder ein breites Grinsen, wie immer, wenn ich an Jonas dachte.

„Das freut mich sehr Timo. Ich beneide dich wirklich um deine Eltern. Ich hab ja deine Mutter schon kennengelernt. Sie ist ein wahnsinnig liebenswerter Mensch.“

Ich sah, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen.

„Alles Okay Gabriel? Kann ich was für dich tun?“ Ich setzte mich zu ihm aufs Bett, zögerte kurz und nahm ihn einfach in den Arm.

„Nein, ich glaube nicht. Höchstens Zuhören. Also, ich würde dir erklären, warum es mir so geht.“

„Ja gerne. Aber erst trinkst du mal was.“ Ich gab ihm ein Glas Wasser und ein Taschentuch.

Gabriel schilderte mir seine Erlebnisse der Kindheit, wie es im Heim war und was für Mist er schon gebaut hatte. Schonungslos ehrlich würde ich behaupten.

Ich wusste ehrlich nichts zu sagen als er fertig erzählt hatte. Er lag in meinen Armen und ich hielt ihn fest. In diesem Moment kamen dann auch meine Eltern und Dr. Lopes ins Zimmer.

„Na ihr beiden. Ihr scheint euch ja doch ganz gut zu verstehen.“ Meine Mum kam näher.

„Hallo Ingrid.“ Grüßte er sie höflich. Er duzte sie? Typisch Mum.

„Guten Abend Herr Krist“

„Marcus bitte, hallo Gabriel.“

Auch mein Vater war bei meinen Freunden immer sehr schnell mit dem duzen.

Dr. Lopes kam auch mit ins Zimmer.

„Ach wie schön, gleich zwei Patienten zum angucken. Das ist toll. Timo, alles okay bei dir?“

„Ja danke mir geht’s wunderbar“, grinste ich ihn an.

„Ich hab da was läuten hören, ja. Gabriel, wie geht’s dir denn?“

Gabriel sah ihn etwas zerknittert an.

„Ja, geht schon.“

„Hm okay. Also du hättest ja eigentlich morgen gehen können, aber wir müssen noch was prüfen. Du wirst erst am dreiundzwanzigsten entlassen.“

Gabriel schaute ihn an und es sah so aus, als würde er sich darüber freuen. Kein Wunder, nachdem er diese Dinge über das Heim erzählt hatte.

„Ist okay, hab ich noch einen Tag lang ein schönes Leben hier.“ Sein Lächeln bei dem Satz wirkte allerdings aufgesetzt.

„Du willst da nicht wieder hin, oder?“, fragte ich ihn flüsternd. Er schüttelte als Antwort leicht den Kopf.

Ich sah meine Mutter an und sie nickte leicht. Sie hatte es anscheinend auch gehört und ergriff nun das Wort.

„Gabriel, Steffi hat mir gesagt, dass du einen Ausbildungsplatz suchst. Es sollte was mit Menschen sein, sagte sie.“

„Ja, das stimmt schon. Warum?“

„Also, ich hatte gestern ein Gespräch mit einem alten Schulkollegen. Er leitet eine Kindertagesstätte und eine seiner Angestellten hat gestern gekündigt. Er sucht für Januar jemanden für die Stelle. Also, ich hatte heute nochmals mit ihm gesprochen und von dir erzählt. Ja, also, er würde dich sehr gerne kennenlernen und dir einen Ausbildungsplatz geben, wenn es dir da gefällt.“

„Nein. Du machst jetzt Witze oder Ingrid? Ist das dein Ernst?“

Gabriel fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Er breitete seine Arme aus und drückte meine Mum fest an sich.

„Danke Ingrid. Sowas hat noch nie jemand für mich getan. Ich weiß nicht, wie ich mich dafür erkenntlich zeigen könnte.“

„Das musst du nicht Gabriel. Du hast Timo geholfen. Außerdem bist du ein so lieber netter Kerl, da kann ich nicht anders. Soll ich Toralf, also meinem Schulfreund sagen, dass wir übermorgen vorbeikommen?“

„Ja, sehr gerne, Ingrid.“

Meine Mum lächelte ihn an.

„Das freut mich.“

„Gabriel, ist das okay, wenn ich dann mal abhaue? Ich würde gerne noch ein paar Geschenke einkaufen. Hatte ja jetzt noch keine Gelegenheit dazu. Ich würde auch gerne später noch einmal vorbeikommen, wenn ich darf.“

„Klar Timo, kein Problem. Ich würde mich sehr freuen.“

„Wir müssen dann auch wieder los, Gabriel. Wir sehen uns dann übermorgen. Wir holen dich so gegen neun Uhr ab. Ist das in Ordnung für dich?“

„Ja, auf jeden Fall! Ich wünsch euch dann noch einen schönen Nachmittag und Abend. Bis morgen.“

Wir gingen alle nach draußen, wo uns Steffi begegnete.

„Und wie war es, Timo?“

„Er ist ein total netter Kerl. Ich geh ein wenig shoppen und komme nachher nochmal vorbei.“

„Ich weiß, dass er ein super Kerl ist. Ist ja auch mein Freund.“

Ich grinste sie an.

„Sag mal Steffi. Könntest du mir bitte Jonas Telefonnummer geben? Ich hab vorhin total vergessen ihn zu fragen.“

„Auf deinem Schreibtisch liegt ein Zettel. Ich hab dir, während ihr geschlafen habt, seine Nummer, unsere Festnetznummer und die Adresse aufgeschrieben. In weiser Voraussicht.“

„Ach, du bist die beste Schwägerin, die man haben kann.“

„Danke, ich weiß.“

„Bis später dann. Und viel Spaß mit Gabriel.“

„Danke, bis später.“

Wir gingen zurück und meine Mutter schlug vor, noch eben einen Kaffee trinken zu gehen. Nachdem niemand einen Einwand hatte, gingen wir in die Cafeteria, in welcher ich mir eine große heiße Schokolade bestellte. Ich hätte zwar gern einen Kaffee getrunken, aber der liebe Dr. Lopes meinte, das Koffein wäre jetzt nicht gut für mich.

Ich rührte etwas gedankenverloren mit meinem Löffel in der Tasse und dachte darüber nach, was Gabriel mir über das Heim und sein Leben und wie er sich gefühlt hatte, als Mum ihn besucht hatte, erzählt hatte.

„Mum?“

„Du denkst über Gabriel nach, oder?“

Meine Mutter erschien mir ungewöhnlich ernst.

„Ja. Ich würde ihm gerne helfen. Ich hätte da schon ne Idee, aber die ist schwer durchführbar, glaube ich. Außerdem denke ich nicht, dass euch das gefallen würde.“

Mein Vater ergriff das Wort.

„Timo, du hattest dir überlegt, wir haben ja die beiden Gästezimmer. Und eines davon könnte man ja als schickes Jugendzimmer einrichten und Gabriel da unterbringen.“

Mir fiel der Löffel aus der Hand. Genau das hatte ich gedacht.

„Woher weißt du…..“

„Timo, den Gedanken hatten deine Mutter und ich schon vorher. Das ist auch das, was wir mit dir besprechen wollten. Wir beide haben uns das genau überlegt und auch Informationen eingeholt. Es wäre möglich, dass Gabriel bei uns einzieht. Wir wären dann seine Pflegefamilie. Da deine Mutter über Martin und Toralf auch einige Kontakte hat, könnte das noch vor Weihnachten passieren. Ich muss gestehen, wir haben alles soweit in die Wege geleitet, aber noch haben wir das letzte Okay nicht bekommen. Wir wollten erst mit dir darüber sprechen, wie du darüber denkst.“

„Von meiner Seite her ist das absolut in Ordnung. Ich würde mich sehr freuen, einen Bruder zu haben.“

„Wirklich? Also wir meinen das wirklich ernst, Timo.“

„Ich auch.“

„Na dann mal ran an die Telefone. Wir haben gehofft, beziehungsweise sind eigentlich davon ausgegangen, dass du so denkst Timo. Aus dem Grund soll Gabriel einen Tag länger hier bleiben. Wenn wir jetzt sagen, dass wir es machen, dann kann er übermorgen zu uns. Wir wollten ihm nicht einmal einen Tag in diesem Heim zumuten.“

„Das machen wir Paps. Ich bin dabei. Was kann ich tun?“

„Du könntest jetzt beim Einkaufen ein paar Sachen besorgen, die man in einem Jugendzimmer so braucht. CDs, Bücher, DVDs und solche Sachen. Vielleicht kannst du auch nach einem Laptop und einem neuen Fernseher Ausschau halten. Die könnten wir mitnehmen, wenn wir dich abholen. Wäre das in Ordnung für dich?“

„Ja sicher, kein Ding. Ihr denkt aber daran, dass wir noch Klamotten, Schreibtisch, Schrank und ein ordentliches Bett brauchen? Und ne Sitzgelegenheit.“

„Ja. Das wär schon gut. Gut, dass wir das Zimmer neben deinem erst vor zwei Monaten frisch gestrichen haben. Martin? Kannst du vielleicht morgen auf Steffi verzichten? Dann könnten wir sie zum einkaufen mitnehmen.“

„Ja sicher, das ist kein Problem. Timo, wenn du willst kann sie auch jetzt mitkommen. Es ist nicht viel los. Das schaffen wir auch so. Und shoppen zu zweit wäre sicher lustiger.“

„Da hätte ich nichts dagegen.“

Meine Mutter übernahm das Kommando.

„Gut. Timo, du gehst mit Steffi einkaufen. Marcus, du fährst Möbel kaufen und ich geh telefonieren.“

„Ich dachte, das mit den Möbeln machen wir morgen?“

„Nein, das machen wir, beziehungsweise du, heute. Dann haben wir morgen in Ruhe Zeit, das Zimmer wohnlich zu gestalten. Timo, könntest du vielleicht Jonas fragen, ob er uns helfen kann?“

„Ja klar, ich ruf ihn nachher gleich an.“

Steffi kam in die Cafeteria geeilt, nachdem Dr. Lopes sie angerufen hatte.

„Gibt es einen Notfall Herr Doktor? Es klang so dringend.“

„Steffi, schön dass du da bist.“ Ergriff meine Mutter das Wort.

Sie erzählte Steffi von unserem Entschluss, Gabriel bei uns aufzunehmen und der Planung für den restlichen Nachmittag und den folgenden Tag.

„Wirklich? Das wollt ihr machen? Ich weiß jetzt nicht, was ich sagen soll. Gabriel wird vor Glück nicht mehr aufhören zu grinsen. Menno, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

Sie fächerte sich mit beiden Händen Luft ins Gesicht.

„Steffi, Sie haben ab heute Weihnachtsferien. Bitte sagen Sie Gabriel nichts davon. Wäre es trotzdem irgendwie möglich, dass Sie bei ihm morgen Frühstücksausgabe machen wie immer? Damit er keinen Verdacht schöpft.“

„Ja sicher, Herr Doktor. Ich werde da sein. Danke für die verlängerten Ferien.“

„Kein Ding. Das wird vermutlich anstrengender als Arbeit, “ grinste er sie an.

„Dann geh ich mich mal umziehen.“

Kaum gesprochen war sie schon weg. Ich trank meine Tasse aus und zog meine Jacke an, als mir mein Vater mir einen Umschlag zu steckte.

„Hier, ich hoffe das reicht zum shoppen. Die anderen Sachen zahle ich dann mit der Karte.“

„Danke Paps.“

Ich packte den Umschlag in meine Geldbörse.

„Wir sind wirklich stolz auf dich, Timo.“

Meine Mum gab mir noch einen dicken Kuss auf die Wange, als auch schon Steffi angelaufen kam.

„Dann mal los, liebster Doppelschwager.“

Dr. Lopes sah uns etwas verwundert an und Steffi grinste auch wie ein Honigkuchenpferd.

Ich war vor Lachen fast den Tränen nahe und musste ein wenig Aufklärung bei meinen Eltern betreiben.

„Guckt mal, ich bin mit ihrem Bruder zusammen, und sie mit meinem. Deswegen der Doppelschwager.“

Jetzt hatten den Spruch auch meine Eltern verstanden. Gut gelaunt zog ich mit Steffi los ins Einkaufszentrum. Ich hatte mit meinem Dad ausgemacht, dass er mich anruft, wenn er aus dem Möbelhaus raus ist, und zu Hause abgeladen hat.

„Du wirkst ja ganz aufgeregt Timo.“

„Steffi man kriegt ja nicht alle Tage einen Bruder.“

„Ich find das toll von euch, dass ihr ihn aufnehmt. Was müssen wir denn alles besorgen?“

„Alles was so ein Jungenzimmer braucht. Ein Handy, Bücher, DVDs, CDs und paar Kleinigkeiten. Außerdem brauch ich noch Weihnachtsgeschenke für meine Eltern, für Gabriel auch und natürlich für Jonas.“

„Und hast du schon ne Idee?“

„Für meine Mutter einen Bildband über Kanada, meinem Paps möchte ich die Hape Kerkeling DVD und das Hörbuch ‚Ein Mann, ein Fjord‘ schenken. Für Jonas muss es natürlich was ganz besonderes sein, das weiß ich noch nicht genau.

Nach fast zwei Stunden hatten wir so gut wie alles besorgt. Wir hatten für Gabriel auch gleich eine komplette Badezimmerausstattung gekauft. Handtücher, eine elektrische Zahnbürste, Zahnpaste, Deo, Gel und Parfum. Ein paar Bücher, Bildbände, viel Musik, Bettwäsche und auch zwei Modellautos für die Zimmerdekoration. Ich hoffte, Gabriels Geschmack zu treffen, aber Steffi meinte, dass es Gabriel sicher gefallen würde. Ein Pre-Paid Handy war auch schnell besorgt.

Von meinem eigenen Geld kaufte ich dann einen neuen MP3 Player. Unser Berater in der Abteilung war so nett, und hatte ihn gleich mit der Musik einiger CDs bespielt, denn ich wollte den Player nachher mit ins Krankenhaus nehmen und Gabriel geben, damit ihm nicht langweilig war.

Bei uns im Einkaufscenter gab es Schließfächer, in denen man die Einkäufe deponieren konnte. Das war auch wirklich gut, denn wir benötigten doch glatt 5 Fächer für unsere Schätze. Nach einem kurzen Telefonat mit meinem Paps hatten wir noch eine Stunde Zeit, bis er uns abholen wollte. Ich machte mich mit Steffi auf den Weg in den Saftladen. Dort gab es immer frische Fruchtsätze und Fruchtcocktails. An einem Weihnachtsstand sahen wir einen kleinen kuscheligen Teddybären sitzen. Ich sah Steffi an und sie nickte.

„Das ist eine nette Idee. Jeder braucht sowas, auch wenn man schon siebzehn ist.“

Gesagt, gekauft. Der Teddy wanderte zu dem MP3-Player in meine Tasche. Kurz vor der Saftbar zog Steffi mich zu einem kleinen Stand mit Schmuckstücken.

„Timo sieh mal. Diese geflochtene dünne Lederkette mit dem silbernen Anhänger. Glaube, Liebe und Hoffnung. Das wäre doch etwas für Gabriel oder? Ich muss wissen, was der kostet.“

Schon war Steffi beim Verkäufer. Diese Kette war auf jeden Fall etwas Besonderes. Sie bestand aus drei sehr dünnen Lederbändern, die zu einer dünnen Kette verflochten waren. Doch da war noch silbernes mit eingeflochten.

Mir hatte es ein anderes Schmuckstück angetan. Ein dünnes Silberarmband mit eingearbeiteten Lederintarsien. Ich hatte mein Geschenk für Jonas gefunden und betrat ebenfalls den Laden.

„Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Verkäufer freundlich.

„Ich hatte diese Lederkette mit dem Anhänger in dem kleinen Schaukasten gesehen. Ich wollte fragen, was sie kostet.“

„Das ist eigentlich nur ein Ausstellungsstück, welches nicht verkäuflich ist, junge Frau. Das sollte zeigen, dass wir jeglichen Schmuck herstellen können. Absolut persönlich und einzigartig. Wie alle Teile in diesem Schaufensterbereich.“

Also auch das Armband, welches ich mir für Jonas ausgesucht hatte.

„Wenn Sie kurz einen Moment warten würden, ich werde kurz meinen Chef fragen. Ich bin sofort zurück.“

Der junge Mann ging in ein Büro und kam kurze Zeit später mit einem schick gekleideten Mann Mitte vierzig wieder, der ein warmes Lächeln auf den Lippen hatte.

 

„Guten Tag. Sie interessieren sich für unsere Ausstellungsstücke, habe ich gehört? Was hat es ihnen denn angetan?“

Steffi beschrieb ihre Kette und ich das Armband. Der alte Mann setzte ein breites Grinsen auf, bevor er kurz zum Schaukasten ging und die Kette und das Armband holte.

„Bitte sehr. Da jetzt so kurz vor Weihnachten ist, mache ich heute einmal eine Ausnahme.“

„Was kosten die beiden Sachen denn?“, fragte ich.

„Das Armband kommt auf hundertneunundvierzig Euro und die Kette auf hundertneunundneunzig“, antwortete er freundlich.

Steffi schluckte.

„Dann bleibt es vermutlich nur ein Wunschtraum. Das ist bei meinem Budget leider nicht ganz drin.“

„Darf ich es dir auslegen? Immerhin ist das Geschenk für meinen Bruder.“

„Sehr ungern Timo, ich habe ungern Schulden bei jemandem.“

„Dann beteilige ich mich, und du hast keine Schulden.“

Ich bat den Geschäftsinhaber, beide Sachen zu verpacken, ich würde sie nehmen. Ich gab ihm dann meine Bankomatkarte. Steffi bedankte sich vielmals und meinte, dass es ihr aber so peinlich wäre. So bemerkten wir nicht, dass der alte Mann uns die Schmuckstücke und meine Karte zwar zurück gab, ich aber nichts unterschreiben oder meinen Pin eingeben musste.

Erst als wir uns in der Saftbar schon den dritten Cocktail genehmigt hatten, fiel mir auf, dass die Zahlung anders war als sonst.

„Steffi, ich habe weder etwas unterschrieben, noch den Pin eingegeben. Ich glaube, da ist irgendwas schief gelaufen. Lass uns nochmal hingehen und nachfragen.“

Wir bezahlten und machten uns auf den Weg zu dem Stand. Dort wo er vor einer knappen Stunde noch gestanden hatte, war nun ein leerer Platz zwischen allen anderen Ständen.

Wir fragten beim Süßigkeitenstand, gleich nebenan, nach.

„Die haben vorhin gepackt und sind gegangen. Die waren ausverkauft. Dabei haben die heute nur drei Sachen verkauft. An sie beide und an einen Mann. Aber wenn denen das reicht. Als sie fertig waren, haben sie noch das Plakat an die Wand gehängt und sind los. Vermutlich zu einem Auftritt.“

Wir sahen uns das Plakat an.

>>Die Health Care Singers aus Engelsberg wünschen fröhliche Weihnachten<<

Darunter standen noch die Termine, wann und wo der Chor, der mit seinen Auftritten und dem Stand Spenden für Kinder sammelte, seine Auftritte hatte.

Ich sah Steffi an. Sie schüttelte auch nur etwas verwundert den Kopf.

„Timo, Steffi, gerade wollte ich euch anrufen.“

Mein Paps stand hinter uns.

„Hey Paps. Na alle Einkäufe erledigt?“

„Ja, wir haben den halben Ikea leer gekauft“, grinste er mich an.

„Ihr seht aber nicht so aus, als hättet ihr schon was besorgt.“

„Oh doch, das haben wir. Wir mussten die Sachen nur in den Schließfächern deponieren. Es war zu viel. Bevor ich es vergesse.“

Ich zückte mein Portemonnaie und gab ihm die restlichen Scheine aus dem Kuvert wieder.

Er sah mich an.

„Okay, jetzt sehe ich es. Ihr habt tatsächlich eingekauft. Habt ihr euch wegen Fernseher, DVD Player, Stereoanlage und PC schlau gemacht?“

„Ja, alles schon ausgesucht. Brauchen nur dein Okay wegen den Preisen. Handy habe ich auch schon gekauft.“

„Du bist der Beste. Na dann mal los, wir haben noch viel vor.“

Mein Paps war sehr zufrieden mit den ausgesuchten Sachen. Nur beim PC hatte er sich anders entschieden. Er wollte gleich ein richtig gutes Gerät mit Monitor, Drucker und Scanner. Wenn, dann gleich richtig, wie er meinte. Wir gingen zu den Schließfächern, und holten unsere Einkäufe raus, fuhren zur Warenausgabe und holten dort die Elektrogeräte ab. Dann sollte es eigentlich ab nach Hause gehen, doch ich hatte meinen Paps gebeten, mich noch kurz in die Klinik zu fahren.

Steffi und ich gingen gleich zu Gabriel, während mein Paps von Martin abgefangen wurde. Er hatte alles so weit vorbereitet. Gabriel kam morgen zu uns in sein neues Zuhause.

Gabriel

Noch einen Tag länger konnte ich hier verbringen. Ich fand es schon toll. So konnte ich noch ein wenig entspannen. Ich wusste ja, was mich im Heim erwarten würde. Dadurch, dass ich jetzt ein paar Tage nicht da war, würde ich einige Dienste aufgebrummt bekommen. Aber der Gedanke an meine Steffi und einen Freund, Timo, machte die Vorstellung erträglicher. Eigentlich war dieses Weihnachten doch wunderschön. Ich hatte nicht nur eine Freundin, sondern auch einen neuen Freund gefunden. Irgendwie war mir der weitere Gedanke peinlich, ich hatte auch sowas wie Ersatzeltern gefunden. So wie sich Timos Eltern um mich sorgten, das tun doch nur richtige Eltern. Ich kuschelte mich in meine Decke und schlief langsam, relativ zufrieden mit meiner kleinen Welt, ein.

„Guck mal wie süß. Hallo mein Schatz.“

Ich spürte warme Lippen auf den meinen. Es war Steffi.

„Guten Morgen.“ Ich streckte mich und gähnte.

„Eher guten Abend mein Süßer. Ich hab da wen mitgebracht.“

Ich sah an ihr vorbei und sah Timo an der Tür stehen. Er winkte mir zu.

„Hey Timo. Schön dass du auch da bist. Komm doch her. Du musst nicht an der Tür stehen bleiben.“

Er kam näher und wühlte in seiner Tasche.

„Steffi und ich waren gerade shoppen und ich dachte, dir ist vielleicht langweilig. Also hab ich dir was mitgebracht.“

Er hielt mir einen nagelneuen MP3 Player hin.

„Danke Timo. Das ist aber nicht nötig. Ich schlaf doch nur noch bis morgen hier. Du brauchst ihn mir nicht leihen.“

„Gabriel, es geht nicht ums leihen. Das ist deiner. Ich hoffe dir gefällt die Musikauswahl, die wir zusammen getroffen haben.“

Meine Augen wurden immer größer.

„Du meinst jetzt aber nicht, dass das meiner ist, oder? Du hast den nicht für mich gekauft.“

„Doch habe ich. Ich will dir damit eine Freude machen, Gabriel.“

„Komm her.“

Kaum war Timo am Bett angekommen, legte ich meine Arme um ihn, zog ihn zu mir aufs Bett und hielt ihn fest.

„Danke. Menno wollt ihr mich jetzt echt dauernd zum Heulen bringen? Erst deine Mum heute und jetzt du?“

„Nein darauf haben wir es nicht angelegt Gabriel. Wir wollen dich bisschen glücklich machen.“

„Das macht ihr doch schon, indem ihr meine Freunde seid.“

„Steffi, ich werd hier grad festgehalten. Gibst du Gabi das zweite Geschenk auch?“

„Gabi? Du hast mich nicht grade Gabi genannt, oder?“ Ich fing an ihn zu pieken.

Es ging kurz gut, dann erwischte ich eine von Timos angeknacksten Rippen, woraufhin er aufstöhnte.

„Sorry Timo, das wollte ich nicht.“ Es tat mir wirklich leid.

„Kein Ding Gabriel, ich hatte es auch verdient.“ Er grinste mich an.

„So Schatz, damit du, wenn weder Timo noch ich da sein sollten, nicht allein im Bett bist, haben wir dir noch etwas besorgt.“

Sie hielt mir einen süßen Plüschteddy hin. Ich ließ Timo los und kuschelte den Teddy.

Das war sicher ein tolles Bild.

„Danke, mein erstes Stofftier. Ich werde ihn… hmmmmm… Tiffi nennen. Ti für Timo und ffi für Steffi.“ Ich grinste die beiden an.

„Gabriel, bist du mir böse, wenn ich wieder losziehe? Hab noch ein paar Sachen zu erledigen.“ Timo sah mich total lieb dabei an.

„Ne, ist kein Problem. Sehen wir uns morgen dann? Kommst du auch mit? Bitte.“

„Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, aber wir sehen uns sicher noch vor Weihnachten, das versprech ich dir.“

„Okay, dann bis dann.“

„Bis dann. Bis später Steffi.“

Damit ging er und ich war mit meinem Schatz alleine.

„Bis später? Gehst du heute nochmal zu ihm?“

„Ja, seine Eltern haben Jonas und mich zum Essen eingeladen. Also kein Grund zur Eifersucht, mein Süßer.“

„Ich bin doch gar nicht eifersüchtig. Komm bitte mal her.“

Sie legte sich zu mir aufs Bett und küsste mich. Ich kuschelte mich eng an sie.

Die Weichen sind gestellt. (22.12.2008 17 Uhr 43, Timo)

„Timo, es klappt alles. Morgen holt deine Mutter Gabriel ab, fährt ein paar Klamotten kaufen und dann zu Toralf. Sie wird ihn dann ins Heim fahren, wo er zusammenpacken wird und um zwölf Uhr geht es endgültig raus aus dem Heim.“

„Cool, ich freu mich schon drauf. Dann haben wir noch einiges zu tun.“

„Ja, auf jeden Fall. Unterstützung ist schon zu Hause. Auf dem Heimweg von Ikea hab ich Jonas getroffen. Er ist schon am abbauen der alten Schränke. Und er erwartet dich sehnsüchtig.“ Mein Paps grinste mich an.

„Ist es echt kein Problem für dich Paps?“

„Timo, nein. Warum sollte es ein Problem sein? Ich bin glücklich, wenn es dir gut geht. Und mal ehrlich, das Wichtigste ist doch, dass man jemanden findet, der zu einem passt. Ganz egal ob Junge oder Mädchen. Der Sex, das geht niemanden außer euch was an. Auch wenn ich euch bitten möchte, in der Nacht nicht allzu laut zu sein.“

„Paps, wir werden dann, wenn es soweit ist, auch etwas Rücksicht auf die ältere Generation nehmen, ganz klar. Aber ich will es langsam angehen lassen.“

„Ist schon gut Timo. Ich weiß, dass du das Richtige machen wirst. Habe dich sehr lieb.“

„Habe dich auch lieb Paps.“

Paps konnte zu Hause nicht mal in der Garage parken, weil diese voll mit alten zerlegten Möbeln war. Da hatte mein Schatz wohl ganze Arbeit geleistet. Wie aufs Stichwort kam er zur Haustüre raus, mit Verpackungsmaterial von Ikea beladen.

Nachdem er die Kartons auf den Müllhaufen geworfen hatte, kam er stürmisch auf mich zugerannt. Er war drauf und dran mich zu umarmen, blieb aber kurz vor mir stehen und sah mich an.

„Darf ich auch hier?“

Anstatt zu antworten nahm ich ihn in den Arm und küsste ihn. Unser Nachbar winkte uns grinsend zu.

„Frohe Weihnachten, Familie Krist. Dir auch Timo. Ich sehe, du genießt das Fest der Liebe.“

„Danke Herr Grubmüller. Ja ich genieße es in vollen Zügen. Ihnen und Ihrer Familie auch frohe Weihnachten.“

Unter tatkräftiger Mithilfe von Jonas und meiner Mutter schleppten wir unsere Errungenschaften in Gabriels zukünftiges Zimmer.

„Wow Jonas, du hast aber mächtig rein gehauen.“

„Deine Mum hat mir aber geholfen“, grinste er.

Nicht nur, dass die alten Möbel alle weg waren. Nein, Jonas hatte das Bett, eine Kommode, den Schreibtisch, den Couchtisch, den Schreibtischstuhl und die zwei gemütlichen schwedischen Lehnstühle aufgebaut.

„Den Kleiderschrank hab ich leider nicht alleine geschafft.“ Meinte er entschuldigend.

„Bitte? Du hast fast das ganze Zimmer fertiggemacht. Den Rest machen wir gemeinsam, okay?“

„Okay Schatz, aber du beschränkst dich auf das Dekorieren. Du sollst dich schonen!“

Er gab mir einen Kuss. Mein Vater hatte sich indes umgezogen und stand bereit, um Jonas zu helfen.

Der Schrank erwies sich als etwas sperrig, aber nach fast einer Stunde war er fertig. Steffi war inzwischen auch angekommen und half tatkräftig mit, das Zimmer wohnlich zu gestalten. Wir machten nur eine kleine Pause, um belegte Brötchen zu essen. Nachdem die letzten Dekorationsarbeiten abgeschlossen, alle Geräte installiert und ein paar Bilder aufgehängt waren, fielen wir kaputt auf die Couch im Wohnzimmer.

„Das war eine starke Leistung. Das Zimmer sieht spitze aus.“ Meine Mutter war sehr aufgeregt.

„Ich hoffe Gabriel gefällt es auch so.“

„Auf jeden Fall Mum. Ich freue mich auf morgen. Aber jetzt wird es glaub ich Zeit für mich schlafen zu gehen. Ist ja auch schon halb zwölf.“ Ich kuschelte mit Jonas.

„Steffi, Jonas wollt ihr heute noch nach Hause? Ich würde ansonsten vorschlagen ihr bleibt heute Nacht hier. Jonas wird ja sowieso lieber bei Timo schlafen wollen und du, du kannst in Gabriels Zimmer schlafen oder im Gästezimmer. Wenn du möchtest.“

Jonas war natürlich total begeistert von der Idee. Steffi war auch froh nicht mehr raus zu müssen. Sie entschied sich für das Gästezimmer, weil sie fand, dass Gabriel der Erste sein sollte, der in seinem Zimmer schlief.

Nach dem allgemeinen gute Nacht sagen, bei dem sich Jonas von meiner Mum einen Schmatzer auf die Wange eingehandelt hatte, verzogen wir uns nach oben. Auch wenn es spät war, ich musste unbedingt duschen. Jonas war ja schon nach dem Schrankaufbau duschen. Leider. Ich vollzog also meine Waschung unter dem angenehmen heißen Wasser.

Nur mit einem Handtuch bekleidet kam ich wieder ins Zimmer. Jonas lag unter der Decke und beobachtete mich.

„Du siehst lecker aus, mein Schatz.“

„Danke Jonas. Du warst ja leider zuvor schon duschen, da konnte ich gar nichts sehen.“

Er grinste mich frech an.

„Komm unter die Decke und guck es dir an.“

Schnell entledigte ich mich meines Handtuchs, woraufhin Jonas natürlich noch genauer hingesehen hatte. Dann kletterte ich unter die Decke und kuschelte mich an meinen Schatz. Unbeschreiblich schön war das Gefühl, seine nackte Haut an meiner zu spüren. Wir küssten uns lange und leidenschaftlich.

„Jonas?“

„Ja?“

„Also ich weiß nicht wie du das siehst, aber wäre es sehr schlimm wenn wir es langsam angehen lassen? Ich hatte noch nie Sex mit jemandem.“

Jonas atmete hörbar erleichtert aus.

„Ich auch nicht Schatz. Ich weiß, dass ich dich wahnsinnig liebe, aber ich hab nichts dagegen, wenn wir uns ein wenig Zeit lassen würden.“

Ich küsste ihn weiter und schmiegte mich so eng es ging an ihn an. Wir hielten uns gegenseitig fest und schliefen auch bald eng umschlungen ein.

Der erste Schritt oder doch gleich die ersten beiden – 23.12.2008 Gabriel

Ich war schon um sechs Uhr wach und obwohl ich wirklich gut geschlafen hatte, war ich doch sehr aufgeregt. Immerhin war es ein Tag vor Weihnachten. Ich ging zum Schrank und holte meine Klamotten raus. Sie waren zwar hier in der Klinik gewaschen worden, aber damit konnte ich nicht zum dem Gespräch. Ich musste vorher noch ins Heim und mir was Ordentliches raussuchen. Ich sah aus dem Fenster und konnte es kaum glauben. Es hatte in der Nacht begonnen zu schneien und die Welt draußen war in eine sehr dicke weiße Schneeschicht getaucht. Das müssen mindestens zwanzig Zentimeter gewesen sein. Dieses Weihnachten wurde immer mehr zu dem, wie ich es aus kitschigen Filmen kannte und, wie ich es mir immer gewünscht hatte. Mit einem Lächeln legte ich mich wieder ins Bett und nahm vorsichtig den MP3 Player aus der Schublade.

Ich war immer noch sprachlos. So ein teures Geschenk und das einfach so. Ich fasste spontan den Entschluss, heute beim Einkaufen noch ein Weihnachtsgeschenk für ihn zu besorgen. Für Steffi hatte ich mir schon etwas ausgedacht. Gestern Abend hatte ich noch einen Gutschein für ein Dinner zu Zweit bei Dr. Lopes am PC machen dürfen. Da fiel mir ein, ich würde ihm einen der Engelanhänger für den Weihnachtsbaum schenken. Den zweiten wollte ich Ingrid schenken.

Timo und Steffi hatten genau meinen Geschmack an Musik getroffen. Ich lag ungefähr eine Stunde einfach nur da und genoss die Musik, da kam auch schon Steffi mit dem Frühstück. Sie wirkte sehr aufgeregt und begrüßte mich natürlich mit einem dicken Kuss.

„Na du Held. Freust du dich schon? Ich hab dir zur Stärkung auch extra ein zweites Brötchen gebracht.“

„Ja, ich bin total aufgeregt. Ich muss nur Ingrid bitten, mich kurz im Heim vorbei zu fahren. Ich muss ordentliche Klamotten anziehen. Das hier geht wohl nicht.“

Ich zeigte bei meinen Worten auf den Stapel Klamotten, mit denen ich hier angekommen war und Steffi stimmte mir zu.

„Also DAS geht nun echt nicht. Aber wenn du fertig bist mit frühstücken, kannst du dich gleich anziehen. Ingrid ist schon da und wartet in der Cafeteria auf dich. Ich wünsch dir viel Glück mein Schatz. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch. Und danke für die Wünsche. Kann Glück gebrauchen. Es wär echt toll, wenn das klappen würde.“

„Ich muss dann leider schon wieder weiter, Schatz. Wir sehen uns nachher. Ruf mich bitte gleich an, wenn du Bescheid weißt, ja?“

„Sicher.“

Damit war sie auch schon wieder weg. Ich beeilte mich mit dem Frühstück und schlüpfte in meine Klamotten. Die Haare hatte ich auch noch ein wenig gebändigt, dann ging es auf zu Ingrid in die Cafeteria.

„Guten Morgen, Gabriel.“

Sie steckte schnell einige Zettel weg und musterte mich dann von oben bis unten.

„Mein lieber Gabriel, sei mir nicht böse, aber mit deinen Klamotten müssen wir was machen. So wird das nichts. Ich hab da eine Idee.“

„Guten Morgen Ingrid. Ja, ich weiß, ich sehe schrecklich aus. Können wir noch mal kurz im Heim vorbeifahren? Dann kann ich meine Sachen wechseln.“

„Das wird nicht mehr gehen. Wir besorgen dir eben mal was Neues.“

„Aber ich kann mir was Neues im Moment nicht leisten, Ingrid.“

Sie duldete keinen Widerspruch. Da hatte ich wohl keine Chance.

Wir stiegen in Ingrids Auto und sie fuhr los. Wohin genau wusste ich nicht, denn ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, wo das Gespräch stattfinden sollte. Sie fuhr in die Tiefgarage des Einkaufszentrums.

Zielstrebig gingen wir zu Jack & Jones.

„Such dir mal was aus, ich sehe mich auch um.“

Ich sah mir ein paar Sachen an, doch als ich die Preisschilder sah, wollte ich sie wieder zurücklegen.

„Oh gut, du hast was gefunden. Dann probier die Sachen gleich mal an.“

Sie lud mir dabei einen großen Stapel auf die Arme, aus dem ich jedes einzelne Stück anprobierte. Ich konnte mich nur nicht wirklich entscheiden, die Klamotten gefielen mir einfach alle. Ingrid brachte mir noch Schuhe, die ich dann auch gleich anprobieren sollte. Sie passten wie angegossen.

„Schick siehst du aus Gabriel. Ich glaub das lässt du am Besten gleich mal an.“

Ich gab ihr die anderen Sachen zum Zurücklegen, doch sie ging schnurstracks zur Kasse.

„So wir nehmen die Sachen hier und die Teile, die der junge Mann schon anhat.“

„Ingrid…“ ich wollte etwas sagen doch Ingrid sah mich nur mit einem Blick an, der keinen Widerspruch duldete.

Sie gab mir die drei vollgepackten Tüten zum Tragen und wir gingen zum Auto.

„Ingrid, wegen den Sachen. Also ich…“

Sie sah mich warm lächelnd an.

„Mach dir darüber keine Gedanken. Es ist Weihnachten und ich denke ein paar Geschenke darf ich dir schon machen, oder?“

„Ja schon, doch ich hab irgendwie ein schlechtes Gewissen deswegen. Du, beziehungsweise ihr, macht so viel für mich.“

„Gabriel ich mache dir einen Vorschlag. Wir reden später ausführlich darüber, ja?“

„Okay. Aber wirklich.“

Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange.

„Los, jetzt besorgen wir dir den Ausbildungsplatz.“

„Zu Befehl, Sir.“ Ich salutierte.

Wir fuhren noch etwa zehn Minuten durch die tief verschneite Stadt. Es schneite immer noch dicke weiße Flocken.

An einem netten kleinen bungalowartigen Bau, vor dem viele Kinder im Garten spielten und Schneemänner bauten, hielten wir an. Für einen Moment beobachtete ich die Kinder, es war toll, sie so ausgelassen zu sehen.

Als wir reingehen wollten, sah ich neben dem Eingang einen kleinen Jungen sitzen. Er heulte.

„Hallo Kleiner, ich bin Gabriel. Was ist denn los?“

„Ich bin Max, die…die…die da drüber da, die wollen mich nicht mit bauen lassen. Ich mag aber einen ganz dollen Schneemannengel bauen. Aber die mögen nur so ein Kugelteil machen.“

„Weißt du was Max, ich baue jetzt einen Schneeengel mit dir, ja?“

„Wirklich?“

„Ja. Komm, lass uns anfangen.“

Ich sah zu Ingrid, die mich eigentlich davon abhalten wollte, doch ein Mann mittleren Alters hielt sie zurück.

Max und ich bauten eine tolle Figur und wir hatten auch richtig schöne Engelsflügel gemacht. Max war stolz wie klein Oskar und hing von da an nur noch an meinem Bein.

„Danke Gabriel, der sieht ganz dolle schön aus.“

„Gerne. Weißt du, wie man Engel im Schnee machen kann?“

„Nöööö, wie denn?“

„Guck man legt sich mit ausgebreiteten Armen hin und bewegt dann die Arme und die Beine. Und jetzt sieh hin.“

Ich machte es vor und er sah ganz begeistert drauf.

„Wow. Guckt mal was Gabriel gemacht hat. Einen schönen Engel.“

Die Kinder kamen zu Max und bestaunten erst den Schneemannengel und dann zeigte der Kleine den Kindern, wie man die liegenden Engel macht. Es war wahnsinnig toll, ihnen dabei zuzusehen. Es folgte noch eine kleine Schneeballschlacht, bei der ich mich dann doch schnell vor den Kleinen geschlagen geben musste.

„So, ich muss jetzt aber los. Hat riesen Spaß gemacht mit euch.“

„Och Gabriel, kannst du nicht noch bisschen bleiben?“

Max sah mich traurig an.

„Ich denke aber, im Januar wird Gabriel öfter da sein, wenn er möchte.“

„Ja, er möchte. Stimmt doch Gabriel, oder?“ Max nahm mir ganz frech einfach die Antwort ab.

„Wenn ich eine Chance bekomme, dann gerne.“

„Ich bin übrigens Toralf. Was du hier gemacht hast, war besser als jedes Bewerbungsgespräch. Alle Achtung. Ich denke wir reden drinnen bei einer Tasse Kaffee weiter.“ Toralf machte eine einladende Geste zur Tür.

Wir unterhielten uns ausgiebig. Auch über mein Vorleben. Ingrid hatte ihn schon informiert gehabt und er hatte damit keine Probleme. Er hat mir genau erklärt, wie es im Tagesheim ablaufen und was auf mich zukommen würde. Er fand auch toll, wie ich vorhin mit den Kindern umgegangen war und kam zu dem Schluss, dass er mir den Ausbildungsplatz sehr gerne geben würde, wenn ich wollte.

Und ob ich das wollte! Toralf hatte auch schon alles vorbereitet und so konnten wir beide sofort den Vertrag unterzeichnen. Ich hatte einen Ausbildungsplatz!

Wir verabschiedeten uns von Toralf und den Kindern und fuhren los.

„Hat du was dagegen, wenn wir noch kurz einen Kaffee zu Hause trinken?“, fragte mich Ingrid, die gesehen hatte, dass ich etwas betrübt geblickt hatte.

„Sehr gerne. Dann kann ich ja Timo und Marcus noch mal sehen und frohe Weihnachten wünschen, bevor ich ins Heim muss.“

Ingrid erwiderte nichts und bog in die Hauseinfahrt ein. Im Wohnzimmer warteten schon Marcus, Timo und Jonas. Die beiden kuschelten, wie immer. Sie waren wirklich ein süßes Paar. Leider verflog die Kaffeezeit wie im Flug. Trotzdem wurde die Verabschiedung noch ein wenig hinausgezögert, da Marcus, Timo und Jonas mich begleiten wollten.

Marcus fuhr uns mit einem schicken BMW X5 zum Heim. Es war toll, einmal in so einem Auto mitfahren zu dürfen.

Dann folgte leider doch der Abschied. Aber ich versprach, mich in den Tagen nach Weihnachten zu melden. Beim Hineingehen winkten sie mir alle lieb zu. Ich kämpfte mit den Tränen.

„Ach, der Herr Berger beehrt uns auch mal wieder. Das ist ja toll. Hast dich ja gut vor der Arbeit gedrückt.“

„Guten Tag Frau Urbrüg. Tut mir leid aber ich hatte, wie Sie wissen, einen Unfall. Ich kann nichts dafür, wenn mich einer niederfährt.“

„Ja, das sagen dann alle. So, Gabriel. Du gehst jetzt sofort rauf in dein Zimmer und packst deine Sachen. Du hast eine neue Pflegefamilie. Ich hab zwar keine Ahnung wie das passiert ist, aber egal. Du kannst ab jetzt denen auf die Nerven gehen.“

„A……“

„Ruhe und mach hin. Die werden gleich da sein. Wenn die wüssten, was sie sich mit dir eingefangen haben.“

Nachdenklich ging ich in mein Zimmer hoch. Einerseits freute ich mich ja, hier rauszukommen, weg von dem Drachen. Aber andererseits, was war das für eine Pflegefamilie. Waren die gut zu mir? Wie kamen die überhaupt dazu mich aufzunehmen? Fragen, auf die ich keine Antwort finden konnte. Ich packte meine paar Habseligkeiten in meine Tasche und legte ganz obenauf mein Holzkästchen. Da waren noch die Engel für Timo und Ingrid drin. Ich würde sie gleich anrufen, vielleicht waren sie noch nicht weit weg.

Ich ging wieder in die Eingangshalle und stellte dort meine Tasche ab. Frau Urbrüg wartete schon auf mich. Als ich mich zur Telefonzelle wandte, hielt sie mich fest.

„Das kannst du vergessen Junge. Die Familie ist da und wartet draußen.“

„Ich muss aber noch kurz telefonieren.“

„Du musst hier gar nichts mehr. Hier sind deine Papiere. Jetzt kannst du gehen. Ich hoffe die schaffen es, dir wenigstens ein bisschen Anstand beizubringen. Tschüss Gabriel.“

Sie drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort. Ich wollte ihr noch etwas an den Kopf werfen, aber entschied mich dagegen. Ich hatte jetzt Angst. Wer würde mich da draußen erwarten? Ich nahm meine Tasche und öffnete die Tür. Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, ging ich endgültig nach draußen.

Niemand war da. Was heißt niemand… Der BMW der Krists stand noch direkt vor der Eingangstür. Sonst war niemand da. Die Pflegefamilie wird es sich vermutlich anders überlegt haben. Wer weiß, was Urbrüg denen erzählt hat. Wieder einmal Pech gehabt. Das war jetzt das zweite Mal, dass mir so etwas passierte.

„Was ist Gabriel. Möchtest du nicht herkommen und deine Sachen einpacken?“

Ingrid kam auf mich zu.

„Wie meinst du das, Ingrid?“

„So wie ich es gesagt habe.“ Sie lächelte mich an.

„Ja, ich sollte hier auf meine Pflegefamilie….du meinst doch nicht?“

„Also wenn du meinst, dass ich meine, dass du meinst ich würde meinen, dass du denkst, dass wir deine Pflegefamilie sind, dann denkst du richtig.“

Ich ließ meine Tasche fallen, stürmte auf Ingrid zu und hielt sie fest so fest ich konnte. Mir schossen die Tränen in die Augen. Marcus und Jonas kamen ebenfalls dazu und nahmen mich auch in den Arm.

Als wir uns voneinander gelöst hatten, nahm ich meine Tasche und packte sie ins Auto. Ich konnte kaum glauben, was mir in den letzten Tagen passiert war. Zum zweiten Mal kam ich heute bei Krists an. Nur dieses Mal war es anders. Ich war zuhause.

Wir gingen in die Küche. Dort waren schon Orangensaft und Sekt vorbereitet. Sie hatten alles so geplant. Die Tüten von heute Vormittag standen auch schon hier.

„Also Gabriel, bevor wir dir dein Zimmer zeigen, möchten wir dich recht herzlich in unserer Familie begrüßen. Wir hoffen, dass du dich wohlfühlst. Du sollst auch wissen, dass du jederzeit zu uns kommen kannst. Egal womit. Wir sind immer da für dich.“

Mir rannen Sturzbäche von Tränen die Wangen runter. Ich schaffte es gerade noch ein ‚Danke‘ zu krächzen.

Timo nahm mich in den Arm.

„Willkommen, großer Bruder.“

Als ich mich ein wenig gefangen hatte, überreichten mir Ingrid und Marcus feierlich den Hausschlüssel und baten mich in den ersten Stock hoch. Ingrid ergriff das Wort.

„Hier links ist das Bad. Darum musst du dich mit Timo streiten. Wir haben in der rechten Spiegelschrankseite ein paar Sachen deponiert. Deine Handtücher und dein Bademantel hängen auch hier rechts vom Waschbecken. Das hier in der Mitte, das ist Timos Zimmer. Hier den Flur entlang geht’s zu unserem Schlafzimmer. Oben im Dachgeschoß sind noch ein Gästezimmer und unser Büro. Und das hier ist dein Zimmer.“

Sie zeigte auf die Tür vor mir.

Ich sah sie an.

„Darf ich?“

„Nur zu.“

Ich öffnete die Tür und ging ins Zimmer. Was mich hier erwartete, war unglaublich. Alles war neu und wunderschön eingerichtet. Sogar ein PC, ein Fernseher und eine Stereoanlage waren hier.

„Das soll mein Zimmer sein?“

Ich konnte es nicht glauben.

„Ja, Gabriel, das gehört dir. Wenn irgendetwas fehlt oder du noch etwas benötigst, dann werden wir es natürlich noch besorgen, keine Frage. Timo hat auch noch etwas für dich.“

Timo kam zu mir und gab mir ein Handy.

„Das ist ein Pre-Paid mit 50 Euro drauf. Ich hab die Nummern von uns allen eingespeichert. Damit kannst du uns immer erreichen.“

Das reichte, um wieder von mir umarmt und halb erdrückt zu werden.

Timo

Mit dieser Umarmung hatte mir Gabriel fast alle Rippen erneut gebrochen. Doch ich konnte ihn verstehen. Ich war sehr froh, dass die Überraschung so gut geglückt war.

Wir hatten Gabriel dann alleine im Zimmer gelassen, damit er sich ein wenig eingewöhnen konnte. Er war jedoch nicht lange alleine, denn Steffi kam bald zu Besuch. Sie konnte aber nicht lange bleiben, weil sie noch Weihnachtserledigungen machen und für die Feiertage einkaufen wollte.

Ich zog mich mit Jonas in mein Zimmer zurück und sah mir Monster AG an. Es klopfte.

„Herein?“

„Hallo Timo, darf ich?“

„Klar doch. Möchtest du mit DVD gucken?“

„Ja gerne, aber vorher möchte ich deine Mum fragen, ob ich ihr was helfen kann.“

„Ähm das lass mal lieber bleiben. Sie würde dich nichts machen lassen. Du sollst einfach ein wenig zur Ruhe kommen. Du kannst hier wirklich auch mal faul sein. Wenn sie Hilfe braucht, dann meldet sie sich. Wirklich.“

„Dann würde ich doch gerne mit euch gucken, wenn ich nicht störe.“

„Gabriel du störst nicht. Außer du kannst nicht mit ansehen, wenn ich meinen Engel küsse.“ Jonas grinste ihn an und küsste mich.

„Timo, ich freue mich sehr für euch. Ich will mich auch nochmal bedanken. Für alles.“

Ich nahm ihn in den anderen Arm und er kuschelte sich an.

Wir mussten alle drei eingeschlafen sein. Jonas und Gabriel waren an mich gekuschelt. Meine Eltern standen in der Tür.

„Na ihr drei. Was haltet ihr davon, wenn wir Pizza bestellen?“

„Ich will ne Hawaii.“ Platzte es aus Gabriel heraus.

„Also wenn das in Ordnung ist.“ Fügte er leicht kleinlaut hinzu.

„Gabriel, du darfst jede Pizza haben, die du möchtest. Timo, du wie immer eine Salami extrascharf?“

„Japp, the same as usual Miss Sophie.” Ich machte wieder einmal den Butler aus Dinner for One nach.

„Du bist so doch schon scharf genug.“ Mein Schatz grinste mich frech an. Auch meine Eltern und Gabriel konnten sich das Lachen nicht verkneifen.

„Jonas, möchtest du mitessen?“, fragte meine Mum ihn.

„Danke Ingrid, aber ich denke, ich werde nach Hause gehen und Steffi ein wenig helfen. Wir wollten ja noch den Weihnachtsputz machen und ich denke sie ist schon froh, wenn ich auch wieder einmal zu Hause bin.“

„In Ordnung. Ihr kommt ja morgen zum Feiern zu uns. Würdet ihr so gegen fünf Uhr da sein? Geht das? Damit ich wegen dem Essen planen kann.“

„Klar, sehr gern. Ich sag Steffi Bescheid. Ich freue mich schon und sie sich auch. Tschüss mein Schatz.“ Er küsste mich lange und zärtlich.

Dann verabschiedete er sich von meinen Eltern und Gabriel und war weg.

Am Abend aßen wir zu Viert. Es war ungewohnt, aber sehr schön. Wir gingen relativ früh zu Bett, allerdings konnte ich nicht einschlafen, also ging ich nochmal zu Gabriel.

„Gabriel, bist du noch wach?“

„Timo, komm rein. Ja ich bin noch wach. Obwohl ich glaube, dass ich träume.“

„Ich muss dich enttäuschen, das hier ist die Realität, kein Traum.“ Ich grinste ihn an.

„Gott sei Dank ist das real. Timo, kannst du verstehen, wie das für mich ist? Ich habe eine Familie. Ihr seid für mich keine Pflegefamilie. Ihr habt mich aufgenommen wie eine richtige Familie. Du bist für mich mein Bruder, der allerbeste Bruder den es gibt.“

„Fehlt nur noch der Name oder?“, witzelte ich.

„Ja. Also nein. Ich meine….“ Er druckste ein wenig rum.

„Ich fühle mich so als Mitglied dieser Familie, egal welcher Name dasteht.“

„Aber du hättest nichts dagegen Krist zu heißen?“

„Nein, absolut nicht. Ich würde diesen Namen voller Stolz tragen. Mein Name Berger ist eigentlich sinnlos. Ich hab da auch keinen Bezug zu.“

„Dann sprich doch morgen mit unseren Eltern.“

Ich konnte erkennen, wie das ‚unsere Eltern‘ ihm eine Gänsehaut verursacht hatte.

„Das klingt so… wunderschön Timo.“

Ich nahm ihn in den Arm.

„Das wirst du noch öfters hören großer Bruder. Ich wünsche dir eine gute Nacht und wunderschöne Träume. Denk daran, das was du in der ersten Nacht in einem neuen Bett träumst, wird wahr.“ Ich gab ihm einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn und ging in mein Zimmer. Ich war gleich, nachdem ich mich unter die Decke gekuschelt hatte, eingeschlafen.

Mein Handyklingeln weckte mich auf. Auf dem Display stand <Gabriel>. Was um alle Welt..

„Ja, hallo Gabriel?“

„Schönen guten Morgen, oder besser schönen guten Mittag Timo. Mum meinte ich sollte dich aufwecken, da dachte ich, ich könnte das Handy gleich mal testen.“

„Wieso wecken? Wie spät ist es denn?“

„Liebstes Brüderchen, es ist elf vorbei. Wir wollten noch gemeinsam zum Weihnachtsmarkt. Außerdem wurde mir gesagt, dass das Weihnachtsbaumschmücken Familiensache ist, die wir auch gemeinsam machen.“

„Okay, okay. Ich geh duschen und komm dann runter.“

„Erscheinen reicht.“ Gabriel hat sich schnell eingelebt. Solche Meldungen kamen meist von meinen Eltern.

Erst las ich aber noch die SMS von Jonas. Er hatte mir in der Nacht noch geschrieben.

>>Hi mein Engel. Ich danke dir, dass du mir dein Herz, deine Liebe schenkst. Ich habe mich noch nie derart gut gefühlt wie jetzt. Ich will immer bei dir sein und dich glücklich machen. Du bist mein Ein und Alles. Du hast mir mein Lächeln wiedergeschenkt. Ich liebe dich. Bis heute Abend. Dein Jonas, der dich so sehr liebt.<<

Nachdem ich die SMS auf mich hatte wirken lassen, antwortete ich ihm:

>>Guten Morgen Jonas, mein Engel. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich liebe und wie glücklich du mich machst. Ich kann nur versuchen, es dir jeden Tag, jede Stunde und jede Minute zu zeigen wie sehr ich dich liebe. Ich will nie mehr ohne dich sein. In Liebe, dein Timo<<

Eine halbe Stunde nach dem Telefonat kam ich in die Küche. Meine Mum hatte mir eine Tasse heiße Schokolade gemacht und Kekse vorbereitet.

„Guten Morgen Großer. Hast du gut geschlafen?“

„Guten Morgen Mum. Ja wie ein Stein.“

„Das hab ich gemerkt. Gabriel hat heut schon mehrfach versucht dich zu wecken.“

„Das hat er schlussendlich ja auch geschafft. Wo ist er überhaupt?“

„Er war vorhin mit Paps einen Weihnachtsbaum kaufen und jetzt versuchen die beiden, ihn halbwegs gerade in den Ständer zu verfrachten. Ich denke, er fühlt sich wohl.“

„Das tut er Mum. Wir hatten gestern noch ein wenig geredet. Er ist so glücklich, Teil unserer Familie zu sein. Er hat dich heute Morgen, als wir geredet hatten, sogar Mum genannt.“

„Wirklich?“

„Wir sind für ihn seine Familie, Mum.“

„Paps und ich hatten überlegt, nach den Feiertagen mit ihm zu sprechen, wenn er sich eingelebt hatte.“

„Worüber denn?“

„Wir hatten uns überlegt, ihn nicht nur zur Pflege aufzunehmen, sondern haben auch daran gedacht, ihn zu adoptieren.“

„Das wäre ja Spitze.“

„Meinst du? Ich weiß nicht, ob wir ihn damit überrumpeln würden.“

„Ich denke, er soll sich erst einmal ein wenig einleben und dann solltet ihr das mit ihm besprechen.“

„Wenn, dann wir alle vier.“

„Ist gebongt Mum.“

„Guten Morgen Kleiner“, hörte ich, als mich zwei Arme von hinten packten und knuddelten.

„Hey Gabriel. Ich habe gehört, du warst schon fleißig heute.“

„Ja sicher. Ich bin ja nicht so eine Pennbacke wie du. Es gibt Leute die stehen morgens auf und verschlafen nicht den halben Tag.“ Er grinste mich frech an.

„Endlich mal jemand, der derselben Meinung ist wie ich.“

Meine Mum grinste genauso frech.

„Worauf hab ich mich da bloß eingelassen.“ Ich stöhnte auf.

„Tja selber schuld Timo. So mach dich fertig, wir wollen auf den Weihnachtsmarkt.“

Meine Mutter wieder. Kaum war ich aus dem Bett, fing der Stress an.

Wir verbrachten fast drei Stunden bei dichtem Schneefall mit Glühwein und Punsch, frischen Keksen, Lebkuchen und Marzipankartoffeln. Natürlich musste meine Mutter noch ein paar neue Christbaumkugeln kaufen, die wir zu Hause gemeinsam an den Baum hängen wollten.

Das Schmücken des Baums erfolgte genauso ausgelassen wie der Besuch am Weihnachtsmarkt. Wir brauchten fast eineinhalb Stunden, doch dafür sah der Baum dann auch wunderschön aus.

„Ich hätte da noch etwas für euch.“ Gabriel kam mit einer kleinen Holzkiste an.

„Ich kam noch gar nicht dazu, Weihnachtsgeschenke für euch zu kaufen. Das ist mir total peinlich.“

„Gabriel, das schönste Geschenk ist, wenn es dir gut geht. Du brauchst uns nichts schenken.“

„Naja, eine Kleinigkeit habe ich aber trotzdem.“

Er öffnete die kleine Schachtel und holte zwei wunderschön geschnitzte Holzengel heraus.

„Die sind für euch. Vielleicht findet ihr noch Platz am Baum.“

„Dafür auf jeden Fall, und wenn ich Kugeln runtermachen muss.“ Meine Mutter knutschte ihn dankbar ab.

Wir machten uns sofort auf die Suche nach einem geeigneten Platz für die Anhänger, der sehr schnell gefunden war.

Der Baum war herausgeputzt, jetzt waren wir an der Reihe. Bei uns lief Weihnachten immer sehr entspannt ab, doch auf angemessene Kleidung legten meine Eltern schon wert. Anzug brauchten wir nicht zu tragen aber schicke Hose und ein anständiges Hemd waren schon erwünscht.

Wir waren gerade fertig geworden, als es an der Tür klingelte. Jonas und Steffi hatten sich auch sehr schick gemacht. Jonas sah zum Anbeißen süß aus.

Wir setzten uns gemeinsam an den großen Tisch in der Küche. Meine Mutter hatte ein Fondue vorbereitet.

„Sag mal Ingrid, wie viele Leute kommen noch zum essen?“ Jonas grinste sie an.

„Ach ich dachte heute sind drei hungrige Jungs und eine Dame zu verköstigen. Da hab ich einfach etwas mehr eingekauft. Normalerweise gibt es bei uns ganz einfach Würstchen und Kartoffelsalat. Nur dieses Jahr ist es einfach was ganz besonderes mit unseren beiden Jungs, einem lieben Schwiegersohn und Schwiegertochter zu feiern.“

In der Stimme meiner Mutter klang sehr viel Stolz mit.

„Darauf sollten wir anstoßen. Auf uns alle und ein schönes Weihnachtsfest.“

Die Schlacht am Küchentisch dauerte fast zwei Stunden. Obwohl wir alle mehr als satt waren, blieb noch eine Menge übrig.

Meine Mutter verschwand im Wohnzimmer. Nach ungefähr fünf Minuten hörte ich das Klingeln unseres Weihnachtsglöckchens. Aufgeregt gingen wir ins Wohnzimmer. Da stand er, unser Weihnachtsbaum. Eine wunderschöne hoch aufragende Tanne mit Strohsternen, roten Kugeln und roten echten Kerzen. Darunter war eine Vielzahl von Geschenken deponiert. Jonas, Steffi und ich legten auch noch ein paar Päckchen dazu.

Ich stellte mich neben meinen Schatz und hielt seine Hand. An die andere Hand nahm ich Gabriel, der feuchte Augen hatte.

„Bei uns ist es Tradition, dass wir ‚Stille Nacht‘ unter dem Weihnachtsbaum selber singen und nicht von CD spielen. Ich hoffe ihr könnt damit leben.“

Allgemeine Zustimmung machte sich breit. Auch wenn ich das Singen bisher immer als altmodisch empfunden hatte, dieses Jahr freute ich mich sehr darüber. Meine Mutter begann zu singen und wir alle stimmten mit ein. Wir sangen alle drei Strophen.

„Dann kommen wir jetzt zur Bescherung.“ Mein Paps begann die Geschenke zu verteilen.

Ich bekam tatsächlich meine Digitalkamera die ich mir gewünscht hatte, ein Paar Bücher, CDs und DVDs. Auch ein schicker, warmer Pulli war unter meinen Geschenken, zusammen mit einem Kuvert mit Geld. Gabriel wusste nicht, wie ihm geschah, als er ein Geschenk nach dem anderen bekam. Es waren einige Klamotten darunter dabei, DVDs, ein paar Computerspiele und ebenfalls ein Kuvert mit ein wenig Geld. Auch Jonas und Steffi wurden von meinen Eltern beschenkt. Im Gegenzug wurden die beiden mit meinen Geschenken, Wein, und einer edlen Flasche Whiskey beschenkt, den Steffi zusammen mit Jonas besorgt hatte.

Gabriel brachte Steffi mit seinem Gutschein aus der Fassung, weil sie sich so wahnsinnig darüber freute. Auch ihr Geschenk an meinen Bruder, die besondere Halskette, war ein Volltreffer. Voller Stolz trug er sie, nachdem sie sie ihm umgehängt hatte und Gabriel sie mit Küssen überschüttet hatte.

Jonas kam mit einem kleinen Schächtelchen zu mir.

„Frohe Weihnachten mein Schatz.“ Ich öffnete die Verpackung und dann das kleine Kästchen. Darin befand sich ein Armband, halb aus Silber, halb aus Leder. An der Innenseite der längeren Silberplatte stand <In Liebe, Jonas> Jetzt war auch ich den Tränen nahe. Er machte es mir sofort um.

Dann durfte ich ihm mein Geschenk überreichen. Er packte es aus. Ich hatte das Selbe Armband gekauft wie er, nur das das Muster und die Anordnung von Leder und Silber waren umgekehrt. Er las die Gravur vor <In Liebe, Timo>. Steffi und ich wechselten kurz fragende Blicke. Jonas fiel mir um den Hals und weinte vor Glück. Ich musste ihm das Band natürlich sofort anlegen.

Ein Geschenk hatte ich noch. Ich ging zu Gabriel.

„Frohe Weihnachten Gabriel. Damit du weißt, wir sind immer da für dich.“

Gespannt packte er das Geschenk aus. Es war ein silberfarbener Bilderrahmen. Darin hatte ich ein Bild von meinen Eltern und mir befestigt. Gabriel brach ihn Freudentränen aus und bedankte sich bei mir.

„Danke Timo, danke euch allen für das schönste Weihnachten meines Lebens. Ich konnte euch leider nicht so viel schenken. Das tut mir auch leid.“

„Gabriel, das schönste Geschenk ist, dass du hier bei uns bist. Dass du mit uns feierst.“

Meine Mutter drückte ihn fest an sich.

„Ich weiß, ihr habt mich so reich beschenkt, aber darf ich euch um etwas bitten?“

Mein Vater kam dazu.

„Egal was es auch ist Gabriel. Du darfst immer zu uns kommen.“

„Darf….darf ich….darf ich…darf ich euren Namen tragen?“

Jetzt war es an meiner Mutter in Tränen auszubrechen, sogar mein Vater konnte sich nicht zurückhalten und weinte.

„Wenn du das willst, sehr gerne Gabriel.“

Mir war, als würden die beiden Engelsanhänger von Gabriel kurz leuchten und die Figuren lächeln.

Gabriel drückte meine Mum noch fester.

„Danke Mum.“

Er sah meinen Vater an.

„Danke Paps.“

Wir kamen alle zusammen und hielten uns in den Armen.

Das war Weihnachten, das Fest der Liebe.

Fröhliche Weihnachten

 

Ableitungen und ähnliche Unfälle 2 – Teil 7

Alex

Peter sackte vor meinen Augen zusammen, bewusstlos. Eine leichte Panik überkam mich und Mum war auf einem Termin. Ich verfluchte meine Gedankenlosigkeit. Vermutlich hatte er genau die richtigen Schlüsse aus meinen unüberlegten Worten gezogen. Zumindest erklärte das seinen Zusammenbruch. Ich hatte eine spontane Idee, die hoffentlich kein weiterer Reinfall war. Weiterlesen

Herzlichen Dank

Hallo Ihr Lieben,

möchte mich nochmals bei allen für ihre vielen Feedbacks bedanken. Da ich weg war, kommt dieses Danke schön erst heute. Es hat sehr viel Spaß gemacht, die Geschichte für euch zu schreiben und besonders auch unabsichtliche Anregungen von euch einzubauen.

Deswegen sag ich, die Cliffhänger habt ihr euch teilweise selber zu verdanken – so gemein kann nicht mal „Pit“ sein. *breit grinst*

Liebe Grüße und auch 1000 Dank für die vielen Weihnachtswünsche
euer Pit

Kommt dort nicht der Weihnachtsmann?

Kommt dort nicht der Weihnachtsmann?

Wir schreiben den 25.Dezember 2007, es ist so etwa 20 vor 11 Uhr am Vormittag und ich liege  am Strand, inmitten einer Runde von  Leuten, die sich  auf  Liegestühlen in der Vormittagssonne aalen. Wir befinden uns unweit der Ortschaft Strand, die in der Nähe von Stellenbosch liegt. Das wiederum liegt etwa fünfzig Kilometer von Kapstadt entfernt in  der Republik Südafrika und ist  als Weinregion bekannt. Weiterlesen

Sankt Martin und das Christkind

‚Hohoho!‘

Ich möchte mich zunächst einmal vorstellen: mich gibt es nicht!
Ich bin ein Mythos, eine Legende und manch einer würde sagen, dass ich ein Fabelwesen bin.

Man kennt mich als Santa Claus, Père Noël, Babbo Natale und hier im Land als Weihnachtsmann. Weiterlesen

Das 24. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Cosmo du?“, fragte ich verwirrt.

Cosmo war in das Licht der Straßenlaterne getreten.

„JA, da staunst du, du kleiner Schwanzlutscher.“

„Aber ich… verstehe nicht…“

„Was gibt es da noch zu verstehen? Du hast meinen besten Freund umgepolt Weiterlesen

Hot Christmas

„The fire is slowly dying,
And, my dear, we’re still good-bying,
But as long as you love me so,
Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow!“
(‚Let it snow‘, by Sammy Cahn und Jule Styne, 1945)

„Ja liebe Zuhörer, das war der Klassiker von Frank Sinatra. Und es hat absolut nichts mit dem folgenden Quiz zu tun.“ Weiterlesen

Das 23. Türchen – eine Adventsgeschichte

Dass plötzlich Dad im Bad stand, gab mir nun doch zu denken.

„Wie lange gedenkst du eigentlich noch das Bad zu blockieren?“, fragte er.

„Wieso, ich war doch nur…“

„… nur eine ganze Stunde jetzt hier drin!“, beendete Dad meinen Satz.

„Bitte?“ Weiterlesen

Das 22. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Mum, das ist alles Ketchup“, meinte ich.

„Geh du rein!“

Ihre Stimme klang schrill. So böse hatte sie mich noch nie angefahren.

„Was ist denn los?“, hörte ich Dad im Flur.

Wie geheißen ging ich ins Haus zurück.

„Morgen Dad.“

„Morgen Fabi. Hat deine Mutter gerade geschrien?“ Weiterlesen

4. Advent

So nun sind alle Kerzen niedergebrannt und bald steht Weihnachten vor der Tür. Die letzte Weinnachtseinkäufe werden getätigt und noch überlegt, was denn vergessen worden ist. Der ein oder andere stellt schon den Weihnachtsbaum,oder versucht wie jedes Jahr die verknotete Lichterkette auseinander zu bringen.

Trotz alle dem, ein schönen vierten Advent!

Liebe Grüße

Pit

Das 21. Türchen – eine Adventsgeschichte

Carsten

Trotz des eigentlich besinnlichen vierten Advents war dieser Mittag schon wieder komplett verplant. Sprich: Marcel, Thomas und Gabriella wollten einkehren. Fabian hatte sich besonders viel Mühe gegeben und alles schön weihnachtlich dekoriert.

Das Zimmer roch nach frischen Nadeln, überall standen Kerzen Weiterlesen

Ableitungen und ähnliche Unfälle 2 – Teil 6

Alexander

Peter saß mit einem seltsamen Lächeln vor mir und hatte schon seit fast 10 Minuten kein Wort mehr gesagt. Es schien mir ein gutes Zeichen zu sein, Dominik hatte bei ihm einen mächtigen Eindruck hinterlassen. Er war ziemlich forsch und hitzig, vielleicht genau das Richtige für unseren schüchternen Peter. Nicht so wie Joshua, der zwar Weiterlesen

Das 20. Türchen – eine Adventsgeschichte

Fabian

„Und du meinst, wir sollten damit zur Polizei?“, fragte Mum.

„Damit ist nicht zu spaßen, ich will nicht, dass unserem Fabian was passiert“, antwortete Dad.

Er richtete sich etwas auf und schaute zu Carsten.

„Du solltest deine Eltern her bitten.“

„Wieso das?“, fragte Carsten verwirrt. Weiterlesen

Das 19. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Hallo, ich bin von der Ortszeitung, kann ich ein paar Fragen stellen?“, meinte der Mann, der gerade seinen Kopf herein steckte.

Hilflos sah ich Dirk an.

„Ich glaube, Sie sind hier falsch.“

„Nein, das ist doch der Junge, der vor der Schule zusammengeschlagen wurde?“

„Ja schon, aber haben Sie sich eine Genehmigung eingeholt, meinen Schüler hier Weiterlesen

Das 18. Türchen – eine Adventsgeschichte

Fabi ging zu Boden und bevor ich reagieren konnte, spürte ich schon einen dumpfen Schmerz im Rücken. Ich schlug um mich, ohne zu sehen, wen ich traf. Fabi lag immer noch auf dem Boden.

Einer dieser Arschlöcher trat Fabi ins Gesicht und in dem Moment rastete ich komplett aus, vergaß mich völlig. Ich sprang den Typen an und Weiterlesen

Das 17. Türchen – eine Adventsgeschichte

Carsten

„Och nein, nicht ihr auch noch“, hörte ich plötzlich Marcels Stimme.

Fabian und ich fuhren auseinander. Mist verdammter, ich war so nah dran gewesen.

„Was?“, fragte Fabi verwundert.

„Ach, Gabriella und Thomas da oben.“

„Die küssen sich?“ Weiterlesen

Das 16. Türchen – eine Adventsgeschichte

Carsten

Fabian lag wie in Trance auf dem Sofa. Wir anderen saßen neben ihm und Fastrick versuchte per Handy mehr über den Zustand von Fabi’s Eltern heraus zu bekommen.

„Also ich finde, wir sollten Fabian jetzt nicht alleine lassen“, meinte Gabriella, „ich rufe zu Hause an, ob ich hier bleiben kann.“

„Das ist eine gute Idee“, meinte Marcel.

„Alles besser, als noch einen einzigen Tag alleine Weiterlesen

Das 15. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Fabian…“

Meine eigenen Schreie hallten in meinem Kopf… sie wurden nicht gehört… die Schmerzen waren so unerträglich… es war, als würde jemand versuchen, mich zu zerreissen.

„Fabian…“

Jemand zerrte an meiner Schulter.

Moment! Zerren? Nein es war eher ein Streicheln. Weiterlesen

Love me, Save me, Free me

Das war er nun, der Tag. Endlich achtzehn. Der elfte November 2003, diesmal ein grauer Dienstag.

Auf diesen Tag hatte ich mich gefreut, aber auch davor gefürchtet. Heute hatte sich mein ganzes Leben geändert.

Ich war gerade auf dem Rückweg von meinem Anwalt. Endlich Schluss mit Vormundschaft, mit treuhändischer Vermögensverwaltung. Ich war mein eigener Herr. Weiterlesen

Die dritte Kerze

[singlepic=54,122,200,right]Nun Brennt er schon fast komplett, der Adventskranz und in einer Woche sind es nur noch ein paar Tage bis Weihnachten.

Seit dem 1. Dezember machen wir jeden Tag ein Türchen auf und holen eine kleine Überraschung hervor. Für die Einen ein Stück Schokolade, für die Anderen etwas Spielzeug und für einige unter uns vielleicht einen kleinen Zettel mit Sprüchen wie „Ein Mensch liebt, wenn ihm etwas wichtiger ist, als sich selbst.“, so wie auch für Fabian, aus unserem Adventskalender.

Auch sind mittlerweile viele Wohnungen von innen und außen, mehr oder weniger weihnachtlich geschmückt. Täglich sieht man auf dem Weg zu Arbeit oder in die Stadt, mehr von der stahlenden Weihnachtsbeleuchtung und der Vorfreude der Menschen auf das Fest.

Euch wünschen wir weiterhin eine ruhige und besinnliche Vorweihnachtszeit und viel Freude mit der Einen oder Anderen Weihnachtsgeschichte. Und natürlich werden bis zum Heiligen Abend auch noch 10 weitere Türchen aufgeschlossen.

Falls euch eine der Geschichten gefällt, macht dem Autor eine vorweihnachtliche Freude und gebt ihm ein Feedback für seine Arbeit. Er wird sich bestimmt sehr darüber freuen.

Heute hat unser lieber Gaius Geburtstag, dem wir hiermit alles Gute und Liebe zu seinem Ehrentag wünschen.

Das 14. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Ich könnte mich echt daran gewöhnen, morgens mein Brötchen geschmiert zu bekommen“, meinte ich und steckte das letzte Stück in meinen Mund.

Carsten grinste, nein er strahlte sogar, doch ich wurde schnell wieder ernst.

„Wie geht das jetzt mit uns weiter?“, fragte ich, worauf  er Weiterlesen

Das 13. Türchen – eine Adventsgeschichte

Carsten

 

Mit viel Überredungskunst ließen mich meine Eltern wieder in die Schule. Sie meinten, ich solle nach dem Desaster von gestern Abend noch einen Tag zu Hause bleiben, aber die Sehnsucht nach Fabian war so groß, dass ich das verneint hatte.

Erzählt hatte ich nichts über das Gespräch, welches zwischen Fabi und mir stattgefunden hatte und man nahm Weiterlesen

Das 9V-Herz

Das Licht erlischt und mit einem lauten Rums schließt sich die Wohnzimmertür. Viel schneller, als die 340m pro Sekunde, mit der die Schallwellen auf mich treffen und mich durch und durch vibrieren lassen, trifft mich die Gewissheit, nun wieder alleine zu sein.

Ohne einen Blick für mich ist er gegangen. Er, mein Irfan. Und auch der andere. Keine Geste, die ich vielleicht als freundliche Hinwendung, als Gruß deuten könnte. Kein Wort. Und ich bin mir sicher, da war nicht mal mehr ein kleiner Gedanke an mich.

Allein. Die nun eintretende Stille schmerzt in ihrer Intensität. Der Mondschein spiegelt sich in den glänzenden Kugeln am schon geschmückten Weihnachtsbaum wider. Draußen hat leichter Schneefall eingesetzt. Von irgendwo her tönt ein Fernsehgerät. Stimmen sind zu hören, Stimmen von glücklichen Menschen. Es ist eine Zeit des Frohsinns, der Besinnlichkeit, und auch, um an andere zu denken, sich umeinander zu kümmern, jetzt, am Ende des Jahres. Aber nicht für mich! Ich hasse es, allein zu sein, es macht mich einfach krank und unglücklich.

Dabei ist es gar nicht lange her, da war alles noch richtig schön. Und Irfan hatte viel Zeit für mich, war mein bester Freund.

Oft waren wir mit unserem Hobby beschäftigt. Etwa damit, Bewegungsabläufe aus der Natur zu studieren, um sie anschließend, in Bits und Bytes umgesetzt, einem komplizierten Roboter-Model möglichst lebensnah beizubringen. Dem Robert. Irfan gab immer die Diwa, gefilmt von einer Web-Cam. Und ich war der Regisseur an der Aufnahmetaste. Anschließend haben wir seine Bewegungsabläufe Schritt für Schritt in einer langen Prozedur der Mechanik beigebracht. Bionik nennt man das wohl.

Man, was war das lustig, unser anschließendes, schon recht gut gelungenes Synchron-Schaulaufen. Bis auf die öfter mal verbogene Blechnase hat auch fast alles gut geklappt. Nur mit der Eleganz hapert es immer noch, so richtig schön sehen die Bewegungen eigentlich nur bei Irfan aus. Doch den kann man wohl kaum kopieren, denn der ist einzigartig. Und recht klug.

Nur eins verstehe ich nicht: Bei all seiner Klugheit, warum muss der sich immer alles so genau aufschreiben und notieren, kann der sich denn gar nichts gut merken… Ich schaue einmal auf den Bildschirm, und schon habe ich mir den gesamten Inhalt gemerkt. Ein komplettes Programm im Quelltext – kein Problem, Assemblercode inklusive. Meine Klugheit mal vor Irfans Schönheit, ja!

Vor gut einer Woche brachte er noch jemanden mit. Einen Kollegen, sagte er. Marcel. Das kam mir gleich so komisch vor, wie die zusammen vor dem Bildschirm saßen, die Oberschenkel so eng aneinander. Überflüssig war dabei bald nur einer, ich.

Was soll ich nur tun… Mir scheint alles nur noch sinnlos. Keiner mag mich, beachtet mich. Was wäre, wenn…

Langsam fährt der Rechner hoch, ist betriebsbereit. Das Datenkabel an mein Interface ist auch schon angeschlossen. So soll es denn sein, ich will es schnell zuende bringen. Hinweg mit dem schlimmen Schmerz, für immer! Ein simples ‚format c:‘ bringt die Lösung aller meiner Probleme.

„Man, da hab ich ja beinahe vergessen, das dicke Weihnachtspaket aus’m Auto hier zulassen!“ Häh? Hab gar nicht bemerkt, dass dieser Marcel wieder zurück gekommen ist. Der stellt mir ein großes, bunt eingepacktes Paket fast auf die Füße. Und läßt in der Eile das Licht an, als er wieder geht.

Von meinem Vorhaben abgelenkt, ist mein Interesse jetzt ganz dem Paket gewidmet. Ich bin leider sehr, sehr neugierig, und so versuche ich etwas über den Inhalt raus zubekommen. Vorsichtig das Papier angelupft, und, Ritsch… Das war wohl nichts, nun ist das bunte Papier eh schon kaputt. Ritsch-Ratsch, schon steht der Inhalt vor mir. Noch ein Karton.

„XR-2008 vol. 12″, lese ich. In kunstvollen, großen Buchstaben deutlich zu sehen.

Oh Schreck! Das für mein ursprünglich angedachtes Vorhaben erstrebte Ziel scheint nun wahr zu werden, so sehr bin ich überrascht, und meine Lebensfunktionen damit überfordert.

Ein „Extended Robotic 2008″ in der allerletzten Ausgabe 12…

Langsam komme ich wieder zu mir. Mir ist jetzt alles egal – den will ich sehen! Schnell habe ich das mich etwas behindernde Kabel vom Interface an meinem Leib getrennt und in die Ecke gefeuert. Mit vor Aufregung zittrigen Händen versuche ich den Karton zu öffnen, was aber nicht so einfach ist.

Als ich nach Minuten endlich ein Stück vom Inhalt sehe, wird mir richtig warm um’s Herz. Aber hinaus will der Inhalt noch nicht. Tastend versuche ich diesen zu erkunden…

„Eine Robine!“, bricht es aus mir hervor. Diesen Jubelschrei hätte ich niemals unterdrücken können, denn noch nie in meinem Leben habe ich ein anderes Wesen meiner Art aus der Nähe sehen können. Schnell am Kopf gepackt, habe ich sie vollends aus dem Karton gezerrt.

Und dann steht sie vor mir. Einfach wunderbar! Ich kann mich einfach nicht satt sehen, sehe von allen Seiten, von unten, auch von oben. Aber warum sagt sie denn nichts, steht nur einfach immer still da…

Endlich begreife ich, warum. Es fehlt ihr die Energie, die da in Form einer 9V-Batterie, noch in Folie verpackt, im Karton liegt. Ihr 9V-Herz.

Schnapp, schon sind die Kontakte geschlossen. Doch noch passiert nichts. Die Erwartung drückt die Prozessorlast in meinem Inneren in den gefährlichen Grenzbereich.

Dann beginnt sie sich endlich zu regen. Ihre Augen erleuchten. In Blau, meiner Lieblingsaugenfarbe…

* * *

Am nächsten Tag, so etwa gegen Mittag, als Irfan und Marcel zurück in die Wohnung kommen, herrscht das blanke Papierchaos auf dem Fußboden der Wohnstube. Alle Geschenke liegen verstreut in der Gegend. Auch liegt ein DIN-A4-Ausdruck so auf dem Flur, dass sie ihn nicht übersehen können.

Hallo, Ihr Hübschen!

1000-Dank für das schöne Geschenk.

Wir sind denn mal los, etwas die Welt zu erkunden.

Robine hat ja ein Modul für Sonnenenergie integriert, so dass wir wohl etwas länger wegbleiben werden.

Euch ein schönes Weihnachtsfest, (ihr braucht uns eh nicht dabei…)

Robi und Robine

Das 12. Türchen – eine Adventsgeschichte

Carsten

 

„Bürschchen, ich schwöre dir eins, mach weiter so und du findest dich in einem Internat wieder.“

Die Augen meines Vaters waren eiskalt und ich bekam es mit der Angst zu tun. So hatte er sich noch nie verhalten.

„Dein Machogehabe geht mir so dermaßen Weiterlesen

Das 11. Türchen – eine Adventsgeschichte

„Dass du den auch noch in Schutz nimmst, nachdem er so ein Theater vollführt hat“, meckerte Gabriella.

„Das ist ja wohl meine Sache, oder?“

Ich schien das wohl etwas zu giftig gesagt zu haben, denn Gabriella zog eine Schnute.

„Entschuldige…, sollte nicht so rüberkommen, wie Weiterlesen