Was ist Schönheit? In Gedanken schweife ich zurück in meine Vergangenheit. Ich bin in der Schule, mitten in einem christlich dominierten und konservativen Vorort im Ruhrgebiet.
Das Thema ist Prosa und Poesie.
Der Lehrer schwärmt von der ‚Schönheit der Seele’. Romantische Verklärtheit.
Eine ‚schöne’ Vorstellung, und als Teen der späten Achtziger und frühen Neunziger nehme ich es gerne an. Die Liebe zum Menschen, die Liebe zur Seele.
Die Liebe zum Körper ist schier unvorstellbar.
Schon damals fühlte ich etwas, dass durfte nicht sein. Konservativ, römisch katholisch und schmerzhaft christlich. Und ich fühlte entgegen der moralischen Dogmen, die mich umgaben.
Die Großeltern im Kirchenchor, da lag es doch auf der Hand, der männliche Körper hatte für mich ein Tabu zu sein.
Ja, dann lieben wir doch einfach die ‚schöne Seele’, losgelöst von allem das irdisch ist.
Ja, die Schulzeit war eine wahrhaft ‚schöne’, wenn auch sehr einsame Zeit.
Ende der Neunziger, viele Umzüge später, entfernt von der ‚sauberen Moral’ meiner Brutstätte, befand ich mich in einem kleinen Dorf in hessischer Idylle, in bäuerlicher Kleingeistigkeit und, sehr zu meiner Freude, in mittelbarer Nähe zu Frankfurt.
Frankfurt, der Ort meiner Befreiung. Die ersten Kontakte zum schwulen Nachtleben einer Metropole. Und das Ende meines Trugbildes über die wahre Erfüllung einer wahrhaft schönen Seele.
Schön war ich nicht, und schön bin ich auch nicht. Eher unter dem Durchschnitt. Hier und da zuviel auf den Rippen. Das Gesicht irgendwie schief, nicht symmetrisch.
Und Frankfurt ließ es mich spüren. Da war ich nun. Offen, „out“ und abgemeldet.
Verzweifelt? Vielleicht. Enttäuscht? Wahrscheinlich. Unglücklich? Wie niemals zuvor.
Das Paradoxe war, dass ich gerade anfing mich zu lieben, zu akzeptieren. Im Gegenzug hasste ich mich auch dafür, dass ich wurde was ich war.
Ewige Wochen bunkerte ich mich zu Hause ein, hungerte verbissen, quälte mich mit gymnastischen Übungen. Es ging mir elend, aber immerhin hatten sich 25 Kilo in nichts aufgelöst. Meine Ärztin machte sich sorgen, faselte was von BMI bei 18. Magersucht? Ich musste lachen. Sie nicht.
Hätte ich ihr vielleicht nicht von meinem Suizidversuch erzählen sollen. Teilnahmslos erzählte ich ihr davon.
Die Geschichte über die Bundeswehr, wie es mich dort vernichtete. Aber natürlich gab es beim Bund eine einfache Lösung. Ausmustern? Weit gefehlt. Gegen meine Depressionen und für meine Diensttauglichkeit verordnete man mir Antidepressiva. Goldig, oder? Unglaublich? Mit Sicherheit. Aber ich schwöre: es ist die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit.
Ich nahm sie nicht. Aber sammeln durfte ich sie doch, nicht wahr? Der Beipackzettel war interessant. Er versprach den Tod bei Überdosierung.
Ich hatte bald einen großen Vorrat dieser Pillen zusammen, und die Quälerei hatte nach 5 Monaten ein Ende. Man schickte mich heim. KzH bis DZE war das Zauberwort. Krank zu Hause bis Dienstzeit Ende. Anschließend Ausmusterung. Schwul war ich zu der Zeit nicht. Noch nicht. Aber ein Jahr später.
Dann erwischte mich die kalte Schulter der Frankfurter Szene. Und ich fand die Schachtel im Schreibtisch. Und dann nahm ich auch gleich alle Pillen auf einmal.
Der Beipackzettel hatte gelogen. Am nächsten Morgen wachte ich auf, aber mehr tot als lebendig. Eine unglaubliche Müdigkeit hielt mich gefangen. Frustriert torkelte ich damals aus dem Elternhaus, setzte mich in den Bus und fuhr in meine FH, wo ich ein Alibistudium über mich ergehen ließ.
In Wirklichkeit saß ich Tag für Tag im Computerraum und chattete vor mich hin.
Warum hatte das eigentlich nicht geklappt? Also ich meine den Selbstmord. Checkliste: ‚Meine Eltern haben das Haus vor mir verlassen, ich bin allein, die Dosis hätte reichen müssen. Ich hätte so schön im Schlaf vor mich ‚hinsterben’ können. Die Eltern hätten mich dann abends entsorgen können’.
Der Plan war doch perfekt? Irgendwas wollte das wohl nicht.
Meine Ärztin schaut schockiert. Ihre Erklärung bezog sich auf mein damaliges Gewicht. Aber als abgemagerte BMI 18 Schwuppe hätte es jetzt wohl geklappt. Schade, aber ich hatte keine Pillen mehr.
Keine Sorge, ich wollte ja auch nicht mehr. Warum? Jetzt klappte es mit den Jungs in Frankfurt. Wenn schon keiner meine Seele wollte, an dem neuen Körpergefühl waren jetzt deutlich mehr Leute interessiert.
Und daraus folgte natürlich sehr körperlicher, wenn auch seelenloser, Sex.
‚Adieu, schöne Seele’. Ein Ideal verstarb.
Aber es dauerte nicht lange, und eine neue ‚Schönheit’ schlich sich in mein Leben.
Ich fand einen guten Job mit atemberaubender Bezahlung. Und ich lernte jemanden kennen.
Er wurde mein erster ‚fester’ Freund, mein Partner. Nach 4 Jahren sogar standesamtlich.
Wir hatten eine erfüllte Partnerschaft. Uns ging es gut (wirtschaftlich). Es war ein Geben und Nehmen. Und ich gab gern, er nahm gern. Ich war verliebt, er auch. Nur leider galt seine Liebe dem Euro.
Ein Jahr später kam dann der Schlag: mein Job war weg. Der Betrieb musste schließen.
Ich flüchtete mich nach Hause, flüchtete mich in seine Arme, suchte Trost und fand ihn. Allerdings nur noch für 2 Tage. Danach war nicht nur mein Job weg. (und irgendwie hatte sich meine Figur auch wieder in ‚Prä-Suizid’ verwandelt.)
Zusammenfassend halte ich fest:
Die Schönheit der Seele: ein Traum. Gott hab ihn selig.
Die Schönheit des Körpers: Flüchtig, geil aber ohne dauerhafte Erfüllung
Die Schönheit des Geldes: Faszinierend, ich lebte 5 Jahre mit einem Stricher und merkte es nicht. Aber kochen konnte er toll.
Natürlich will ich jetzt hier nicht den moralischen Zeigefinger heben.
Mittlerweile lebe ich seit 30 Jahren auf diesem Planeten und kann auf viele Erfahrungen zurückgreifen, im Guten, wie auch im Bösen.
Letztendlich bin ich keinen Deut besser. Das Umfeld prägt einen.
Wenn jetzt jemand denkt <der hat doch einfach nur kapituliert und belügt sich selbst!>, dann hat diese Person wahrscheinlich Recht.
Zugegeben, abends, wenn ich allein in meiner Wohnung bin, dann denke ich gerne an die Schönlinge, während sich meine Hand ‚aufopferungsvoll’ um Erleichterung kümmert.
Auch wenn ich ‚ihnen’ damit unrecht tue, sie benutze.
Dann fällt meine Mauer für einen Moment. Eine Mauer aus Zynismus und Oberflächlichkeit, zum Schutz vor einer neuen Enttäuschung.
Trauer überkommt mich bei dem Gedanken, dass es ‚ihnen’ gerade vielleicht genauso geht.
Und dann bin ich froh, froh darüber nicht ‚schön’ zu sein. Froh darüber, nicht darauf reduziert werden zu können.